Die Situation im Irak ähnelt in vielem dem Arabischen Frühling. Im vergangenen Herbst entstand im Irak eine bis dahin ungekannte Protestbewegung. Sie richtet sich nicht nur gegen die unfähige eigene Regierung, sondern auch gegen die iranische Einflussnahme. Wer sind die Protagonist*innen dieser Bewegung? Was sind ihre politischen Anliegen, und wie sind ihre Erfolgsaussichten einzuschätzen?

Thomas von der Osten-Sacken beschreibt in iz3w, Heft 377 und in einer Langfassung online die blockierte Situation im Irak.

Das Durchschnittsalter im Irak beträgt 21 Jahre, 57 Prozent der Bewohner*innen sind jünger als 25. Damit hat das Land eine der jüngsten Bevölkerungen im Nahen Osten. Wenn hunderttausende Irakis auf die Straße gehen, handelt es sich also automatisch um eine Jugendrevolte. Und genau das ist die Protestbewegung, die dort seit Oktober 2019 gegen Korruption und allgemeine Perspektivlosigkeit aufbegehrt. Es geht bei diesen Massendemonstrationen um Vieles, vor allem aber um die Zukunft einer Generation, die größtenteils keine Erinnerungen mehr hat an die Zeiten unter Saddam Hussein und die keinen Platz für sich in den bestehenden Strukturen sieht. […]

Dieser „alte Nahe Osten“ liegt in Agonie darnieder und reagiert reflexhaft mit Gewalt und Propaganda auf die sich verschärfenden Krisen. Die bestehenden Strukturen sind inzwischen so marode, dass sie vermutlich selbst mit gutem Willen, der innerhalb des Machtapparates nirgends zu erkennen ist, nicht reformierbar wären. Zudem fehlt es zwischen Demonstrierenden und System an vermittelnden Institutionen und Akteuren.

Vor einem ähnlichen Dilemma standen die Aktivist*innen des Arabischen Frühlings schon vor knapp zehn Jahren; seitdem hat die Situation sich keineswegs verbessert. Ganz im Gegenteil haben die meisten Staaten der Region weiter abgewirtschaftet und sind de facto bankrott. Die Gesellschaften sind tief gespalten in zwei sich zunehmend unversöhnlich gegenüber stehenden Lager: Die Gegner*innen der herrschenden (Un-)Ordnung und deren überall schrumpfende Anhängerschaft. Letztere verfügt zwar über Waffen, Geld und den erklärten Willen zum unbedingten Machterhalt, hat in den Augen großer Teile der Bevölkerung aber jedwede Legitimität verloren. Währenddessen fällt es den Apparaten zunehmend schwerer, ihr Klientel mit finanziellen und anderen Gratifikationen bei der Stange zu halten.

Trotz der Schwäche der alten Systeme gibt es aber keine guten Perspektiven für die Protestbewegung. Sie steht weitgehend isoliert da, mit nennenswerter Solidarität oder gar Unterstützung aus der sogenannten internationalen Gemeinschaft kann sie nicht rechnen. Wer sich außerdem, ob gewollt oder nicht, mit dem Iran anlegt, hat es mit einem Gegner zu tun, der um Macht und Einfluss zu bewahren, zu allem bereit scheint. Auch wenn sich die Demonstrierenden im Irak den Sicherheitskräften und Milizen bisher eindrucksvoll entgegenstellten, wird ihr Widerstand nicht ewig währen. Einfach nur gewaltsam niederschlagen lässt diese Protestbewegung sich, wie die letzten Wochen gezeigt haben, aber auch nicht. Das wissen die Machthaber. Eine Rückkehr zum bisherigen Status quo scheint somit ebenfalls undenkbar.

iz3w | März, April 2020

„Bagdads Tahrir-Platz“