Klimakrise, Migrationen, Arabellion

Wenn von Klima und Migration die Rede ist, denken wir zuerst an die Dürre in der Sahelzone oder an die Überschwemmungen in Mosambik oder Bangladesch. Vielleicht auch an klima-induzierte Verteilungskämpfe von pastoralen gegen bäuerliche Öknonomien, die Inbesitznahme der letzten fruchtbaren Landstriche durch Warlords und Agrobusiness oder den Wassermangel in vielen Städten des Südens.

Oft sind die betroffenen Menschen zu arm, um an Migration auch nur zu denken. Viele der aus ihrer lokalen Überlebensökonomie Vertriebenen landen in den großen, von UNHCR oder ICRC notdürftig unterhaltenen Lagern, deren Namen wir kaum kennen. Sie sind Teil einer globalen Paria-Schicht: die “Überflüssigen” im globalen Kapitalismus.

Migrant*innen kommen eher aus sozialen Schichten, die an Informationen kommen und das Geld für die Reise aufbringen können. Vielleicht könnte von einer globalen “unteren Mittelschicht” die Rede sein, die ihre Ansprüche vor Ort bislang nicht durchsetzen konnte und aus der jene jungen Männer und Frauen kommen, die zur Migration unabdingbar entschlossen sind.

Es gibt in diesem Herbst deutliche Anzeichen, dass die Regimes von Austerity und Angst, des Washington Consensus und der Repression – das Modell Ägypten seit El-Sissi, aber tatsächlich ein Bestand der globalen Ökonomie seit 30 Jahren– nicht mehr funktioniert. Arabische und afrikanische Familien haben vieles hingenommen, mit der Vision einer besseren Zukunft für ihre Kinder. Aber nichts hat funktioniert, weder für sie selbst noch für ihre Kinder, die in den syrischen Foltergefängnissen, den libyschen Lagern stranden oder im Mittelmeer ertrinken. Eine neue Ära hat begonnen: eine neue Welle von Revolten, die durch die sudanesische Revolution eingeleitet wurde und die, aus westasiatischer und afrikanischer Sicht, merkwürdige Parallelen findet in Hongkong, in Chile und in Haiti.

Was sind das für weltweite Gemeinsamkeiten? Gibt es einen Materialismus der großen Wellen in der Geschichte? Für Chile, Irak u.a. wird das Fehlen demokratisch-staatlicher Institutionen nach dem Sturz der Diktaturen genannt. Was den Maghreb und Afrika angeht, wäre vielleicht eher eine völlige Getrenntheit zwischen den militärisch-staatlichen Machtstrukturen und den familiär-netzwerkbezogenen Reproduktionszusammenhängen zu nennen. Die neue Gleichzeitigkeit, die an 1968 erinnert, hat aber sicherlich weitere Gründe. Dazu gehören die sozialen Ansprüche einer globalen „untere Mittelschicht“. Was in Algerien das knisternde Radio war und im Iran die Kassetten mit den Botschaften Ali Schariatis, das ist in den Zeiten der Social media unmittelbar und wirklich global geworden, und zwar sowohl in der transkontinentalen Kommunikation der “Cosmopolitarians from Below” wie auch in der Bezogenheit auf globale Freiheiten. Es scheint, dass eine Politik, die auf einer Mischung von Austerity und Angst basiert, absehbar nicht mehr funktioniert.

Was die MENA-Region, aber auch Lateinamerika angeht, greift die Hypothese einer globalisierten “unteren Mittelschicht” indes sicher zu kurz. Es mobilisieren sich nämlich auch die Armen aus den Slum Cities, in Khartoum und Beirut, und in den Slums der Petro- oder Phosphatgebiete, wo vom globalen Reichtum nichts außer Ökoschädigungen und Militär zu sehen ist. Sie sind großenteils eher konservativ, was die individuellen Freiheiten angeht, und sehen sich angegriffen durch die Staatlichkeit selbst wie auch durch das Eindringen globaler Kulturfragmente.

In dieser schwierigen Gemengelage gibt es sehr hoffnungsvolle Bewegungen, mit basisdemokratischen Strukturen und Selbstorganisation der Frauen. Allerorten steht die Überwindung der Angst vor den alten Regimes an erster Stelle: “Sie alle müssen weg”. Die großen Migrationsbewegungen, die in den letzten Jahren nach Europa ausgreifen, wirken zurück als Trigger für Aufbrüche und neue Ansprüche, gerade auch, weil sie unter der Zerstörung der libyschen Ökonomie und unter der europäischen Flüchtlingsabwehr implodieren. Der Zusammenhang von Arabellion und Harraga Boat-People hat sich in den letzten Monaten verändert: eine neue Mischung von Harraga- und Afrikanischer Migration signalisiert einen konkreten Prozess einer Globalisierung von unten.

Die Krise der MENA-Regimes, die sich überwiegend an Öleinnahmen bereichert und einen Teil dieser Einnahmen benutzt haben, um Militär und Loyalitäten zu finanzieren, hat sich in der Zangenbewegung zwischen Aufstandsdrohung und fallenden Ölpreisen in den letzten Jahren zunehmend vertieft. Davon sind insbesondere die Regimes in den bevölkerungsreichen Ländern betroffen, von denen mehrere von der Gnade des saudischen Königshauses, des IMF und der westlichen „Gebergemeinschaft“ abhängig sind. Die Parolen der Straße, die nach Würde verlangen und dieses Verlangen mit dem Thema der “Nation” verknüpfen, haben in diesem Sinn einen nachvollziehbaren Gehalt, sowohl gegen die jeweiligen Regimes wie auch gegen die Globalpolitik des Westens.

Demgegenüber bezieht sich das Verständnis einer übernationalen Arabellion auf die allenthalben ähnliche Lage der “ganz normalen Leute, die den Nahen Osten verändern” (Bayat), auf die Gleichzeitig der Aufstände und ihrer Themen und auf die “Connectivity” (Scheele) der Bevölkerungen, sowohl über die Sozialen Medien sowie, vor allem, vermittelt über Migrationsprozesse und transnationale informelle Handelswege. Die sudanesischen Viertel in Kairo, die eritreischen in Khartum und Kampala, die syrischen Migrant*innen in Istanbul und Beirut oder die senegalesischen in Casablanca stehen deshalb im Zentrum unserer Untersuchungsinteressen.

Die IRENA-Studie

Hinein in diese explosive Situation stoßen die großen Pläne hinsichtlich der Klimakrise, die nicht nur den Abschied von der erdölbasierten Industriegesellschaft, sondern zugleich einen überaus kapitalintensiven Übergang hinein in eine “Dritte Industrielle Revolution” propagieren. In diesem Zusammenhang verdient die IRENA-Studie “A New World. The Geopolitics of Energy Transformation” unsere Aufmerksamkeit. IRENA heißt: International Renewable Energy Agency. Diese wird hauptsächlich von den Außenministerien Deutschlands, Norwegens und von Saudi-Arabien finanziert und hat 160 Staaten als Mitglied; einer der Autoren: Joschka Fischer.

Aus einer – sehr überfliegerhaften – Sicht fallen in 2019 drei Entwicklungen zusammen: eine ins Unvorstellbare übersteigerte Geldmenge auf den globalen Finanzmärkten, eine überwiegend weiß und metropolitan geprägte Sorge um “unseren Planeten” und die eben beschriebenen globalen Aufstandsbewegungen. Im Hintergrund stehen die schier unbegrenzten Möglichkeiten, die das Zeitalter der Informationstechnologien zu bieten scheinen – wenn auch nicht für alle Menschen auf dieser Erde. Allerdings gibt es da ein Problem: Niemand weiß, wie IT in Profit umgesetzt werden könnte. Ist es Werbung? Ist es Kontrolle? Ist es Interaktion und Kooperation? Industrie 4.0? Die Investitionen in die großen IT Firmen setzen auf eine Zukunft, die wir auf der Straße sehen, aber die sich als Steigerung der Produktivität noch nicht abbilden lässt. Die Finanzmärkte generieren Blasen, die auf ein noch Unbekanntes zielen. Die Quelle der Dividenden ist Neuschöpfung von Geld. Krisen sind vorprogrammiert. Nur eins ist sicher: die Kapitalmärkte werden dieses Geld nicht einsetzen für das Überleben von Bevölkerungen im Süden.

Die Idee, die Finanzkrise von 2007 positiv zu wenden und die Rettung des Kapitalismus in der Klimakrise zu suchen, also die unproduktiven Geldmengen in Klimatechnologie anzulegen, lag ja eigentlich nahe. Das UNEP (Umweltprogramm der UN) machte einen entsprechenden Vorschlag und in London bildete sich eine “Green New Deal Group”, die entsprechende Vorschläge verbreitete. In den USA hat eine darauf bezogene Diskussion Fahrt aufgenommen, bis hin zu Jeremy Rifkins Buch, das gerade auf deutsch herausgekommen ist. Rifkin betont vor allem die Gefahr der verlorenen Investitionen im Ölsektor:

This next phase of infrastructure modernization is rooted in the convergence of 5G communications, a renewable energy Internet (clean technologies and smart grids), and a digitized mobility and logistics platform (autonomous electric vehicles, artificial intelligence, and the Internet-of-Things). Citing a 2015 Citigroup report, Rifkin outlines the huge financial risks now facing the oil, coal and natural gas industries. The fossil fuel industry represents stranded assets of more than $100 trillion in pipelines, ports, power plants, and ocean drilling platforms, all soon to be made obsolete.

Rifkin schreibt sodann über die neuen Möglichkeiten, die sich aus dem Zusammenwirken der neuen metropolitanen Klimabewegung mit einem grün orientierten Kapitalismus ergeben könnten:

The Green New Deal has caught fire in activist circles and become a central focus in the national conversation, setting the agenda for a new political movement that will likely transform the entire US and world economy. Although the details remain to be hashed out, it has inspired the millennial generation, now the largest voting bloc in the country, to lead America on the issue of climate change.

While the Green New Deal has become an overnight sensation, it takes on added weight in lieu of a parallel movement within the global business community that is going to shake the very foundation of society over the next several years. Behind the scenes, the key sectors that make up the infrastructure of the global economy are quickly decoupling from fossil fuels and recoupling with solar and wind energies that are now near parity in cost and soon to be far cheaper.

An diesem Punkt setzt auch die IRENA-Studie an. Sie betont den hohen Investitionsbedarf für die „Renewables“, 110 Billionen Dollar bis 2050, und spricht ähnlich wie Rifkin von einer globalen Transformation bzw. einer neuen industriellen Revolution :

The energy transition involves a profound economic, industrial and societal
transformation. It could affect prosperity, employment, and social organization as much as the first Industrial Revolution. The shift to renewables brings several macroeconomic advantages. … However, it may also create new social divisions and financial risks that could reverberate through the international system and be geopolitically significant.

Für diesen Investitionsschub sollen nicht nur die Geldmengen aus dem Quantitative Easing genutzt werden, sondern die Interessen der Investoren werden ineins gesehen mit dem politischen Durchsetzungsvermögen der metropolitanen Klimabewegung, die zum Motor für “Die Neue Welt” gemacht werden soll.

Wer ist Gewinner, wer Verlierer?

The global energy transformation will have a particularly pronounced impact on geopolitics. It is one of the undercurrents of change that will help to redraw the geopolitical map of the 21st century. The new geopolitical reality that is taking shape will be fundamentally different from the conventional map of energy geopolitics that has been dominant for more than one hundred years.

Die Prognosen der IRENA betreffen die Chancen die die flottierenden Geldmengen, den Verlust der Machtstellung der ölexportierenden Staaten und den geostrategischen Vorteil der Staaten, welche die Patente für „Renewables“ halten, also China, Japan, EU, USA. Für einige von Ölimporten abhängigen Regionen der Erde könnten sich Vorteile ergeben, für andere aber wird ein Desaster vorausgesagt:

In many oil producing countries, there is an implicit social contract in which the authority of the state stems from providing generous subsidized services. If their oil income falls for a long period, these governments will struggle to provide the socio-economic programmes that citizens have come to expect.
Austerity can potentially fracture the state’s legitimacy, possibly leading to social unrest, political infighting and even violence. In such cases, domestic political turmoil could spill across national borders with consequences for neighbouring states. Indeed, the emergence of a power vacuum in petrostates is potentially the biggest geopolitical risk of the energy transition.

Vulnerability is probably greatest in countries where the dependence on oil
rents is highest and where there are high levels of youth unemployment.
Recent upheavals in the Middle East indicate the formidable nature of the
governance challenges in these states, which will become even more difficult
to resolve as oil revenues decline. Nigeria is vulnerable in this regard as well.
It has long struggled with poor governance and poverty, and now faces a
youth bulge: the average age of the population is 18 years and the country is expected to overtake the United States to become the third-most populous
country in the world by 2050.

Zukunft für wen?

„Fridays for Future“ und “Extinction Rebellion” sind Bewegungsformen, die gegenüber der drohenden Katastrophe nicht mehr nach sozialen Zusammenhängen fragen. “Unser Planet” soll gerettet werden. Im Zusammenhang mit dem großen Investment und der Abschottungspolitik Europas wie auch der USA droht dieses “Unser Planet” zur Grundlage eines Klima-Imperialismus zu werden. Der Green New Deal ist exklusiv. Der globale Norden rüstet sich mit neuen Technologien für eine weiß-gelbe Suprematie.

Wenn über die sozialen Folgen der Klimapolitik gesprochen wird, geht es um Pendlerpauschalen, Modernisierungszuschüsse und Ausgleichszahlungen für die metropolitanen Unterschichten. Gegen das Erstarken der Gelbwestenbewegung und nationalistischer Strömungen werden Regulationen geschaffen. Die Politik gegenüber den von der Klimapolitik am stärksten betroffenen Regionen auf der Südseite des Mittelmeers beruht auf dem Export von Waffen und Grenztechnologie und auf der Finanzierung von Lagern und Todeszonen. Solarfarmen in der Wüste werden bewachte Enklaven sein, wie heute die Uranförderzonen und die Militärlager in Mali und Niger.

Die Klimabewegungen im Norden und die Aufstandsbewegungen im Süden stehen in einem schwierigen Verhältnis zueinander. Dieses Verhältnis nicht zum Thema zu machen birgt die Gefahr einer Einvernahme der Klimabewegung für einen neuen Zyklus der globalen Asymmetrie.

Migration ist einer der Schlüssel des globalen sozialen Ausgleichs.

Klima-Imperialismus?