Gestern haben die türkischen Truppen mit Luftschlägen den Einmarsch nach Rojava eingeleitet und zwischen Tal Abyad und Ras al-Ayn mit ihrem Vormarsch begonnen, nachdem die USA ihre kurdischen Verbündeten verraten und das Gebiet freigegeben hatten. Inzwischen hat das türkische Militär gemeinsam mit verbündeten Einheiten eigenen Angaben zufolge die Grenzstädte Ras al Ain und Tel Abjad eingekesselt.

In den ersten 36 Stunden seit Beginn der Offensive seien mindestens 60.000 Menschen vertrieben worden, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Deren Angaben zu Flüchtlingen beruhen auf Schätzungen, eine unabhängige Bestätigung gab es für diese Zahl nicht. Auch wurden seit Beginn der Offensive Aktivisten zufolge mindestens 15 Zivilisten getötet.

Erdogan pokert hoch und die weiteren Entwicklungen in den USA wie auch die Reaktionen innerhalb der Türkei selber sind schwer abzuschätzen. Mit Militärkontrolle auf syrischem Gebiet hat die Türkei allerdings seit 3 Jahren Erfahrung.

Das gilt insbesondere für das große Gebiet westlich des Euphrat, das von Jarabulus am Westufer des Flusses weiter in Richtung Westen über Al Bab bis nach Azaz reicht; türkische Truppen eroberten es in der Zeit zwischen August 2016 und März 2017 gemeinsam mit verbündeten syrischen Milizen („Operation Euphrates Shield“). Wie aus einer Analyse hervorgeht, die der niederländische Think-Tank Clingendael im Juni publiziert hat, hat die Türkei längst begonnen, systematisch ein Kontrollregime in der Region zu errichten.

Ziel des Angriffs ist jetzt eine 450 km lange und 30-km breite “türkisierte” Zone, in der Millionen Geflüchtete aus Syrien angesiedelt werden sollen. Es handelt sich um eine Bevölkerungsverschiebung in einer Größenordnung, die an die großen Fluchtbewegungen und den Bevölkerungstransfer der Jahre 1921 bis 23 erinnert. Damals hatte die Türkei die Griechen aus ihrem Gebiet vertrieben; von den 2 Millionen türkischen Griechen überlebte die Hälfte. Die andere Hälfte starb in der Folge einer ursprünglich von Griechenland ausgehenden Aggression – vor allem aber an der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit der damaligen Nansen-Hochkommission.

In Rojava leben seit Jahrhunderten Menschen, die aus der Türkei vertrieben wurden. Auch in den 1920er Jahren, unter Atatürk, flohen zahlreiche Kurden nach Nordsyrien, in die französische Mandatszone. Derzeit leben in Rojava 2 Millionen Menschen; 650.000 sind Binnenvertriebene aus den syrischen Kriegszonen und haben den Islamischen Staat gerade erst überlebt. Nach Angaben von Safe the Children sind 1,65 Millionen Menschen ständig von humanitärer Hilfe abhängig. Indes verlassen die Mitarbeiter*innen der NGOs das Krisengebiet in Richtung Türkei. In der Gegenrichtung hat sich die zu Zehntausenden fliehende Bevölkerung auf den Weg gemacht.

Offenbar geht die türkische Offensive über das erwartete Maß hinaus. Die Luftschläge betrafen ein Gebiet von 300 km Breite und 50 km Tiefe. Kurzfristig soll Rojava mit einem breiten Keil gespalten werden:

Turkish security analyst and former special forces soldier Necdet Ozcelik told Al Jazeera he expects the first phase of Turkey’s operation will only last about 10 days, or a couple of weeks maximum, with the goal to take control of the area between Tal Abyad and Ras al-Ain.

Wenn die USA auch Manbij im Westteil Rojavas räumen, wird ein Wettlauf zwischen Assad-Truppen und der türkischen Armee mit ihren verbündeten Milizen einsetzen. Den Menschen in dieser Region ist dann jeder Fluchtweg versperrt. Der Ostteil Rojavas ist immerhin noch zum Irak hin offen. “Ist mit mehr Flüchtlinge aus Syrien nach Europa zu rechnen?”, fragt der Deutschlandfunk.

Sicher ist, dass eine neue Fluchtbewegung ausgelöst wird. Allerdings ist bislang unklar, wo die Zivilisten Zuflucht finden können. Kurzfristig könnte sich ein Teil der vorwiegend kurdischen Bevölkerung in den Nordirak begeben. Sollte die Türkei Nordsyrien dauerhaft besetzen, dürfte zumindest ein Teil dieser Menschen mittelfristig versuchen, nach Europa zu gelangen.

Analysten sind sich einig, dass die Folgen der türkischen Invasion nicht absehbar sind und dass sie die gesamte Region erschüttern könnte. Amerikanische Militärs ziehen Vergleiche zum Verlauf des Irak-Kriegs.

It is too soon to say with any certainty where Mr. Trump’s abandonment of the Kurdish fighters who did the heavy lifting in the fight against the Islamic State will lead. But already, anguished American military and national security officials are sounding alarms that clearing the way for Turkey to bomb the Kurds could have long-term repercussions, just as the desertion of allies did then.

At the end of the Persian Gulf war, the United States’ refusal to aid a rebellion it encouraged in Iraq allowed Saddam Hussein to brutally crush the insurgents, leaving him in power and American allies on the ground alienated and slaughtered by the thousands.

Now, with the Kurds potentially facing a similar fate, a Pentagon official said anger within the military was deeper than at any other point in Mr. Trump’s tenure as commander in chief.

EU-Vertreter beeilen sich, zu erklären, dass sie das türkische Vorgehen nicht unterstützen. Dahinter verbirgt sich pure Hilfs- und Machtlosigkeit. Auch die NATO meldet Bedenken an. Wie bekannt, sieht sich Erdoğan gegenüber der EU in einer starken Position.

In diesem Zusammenhang ergeben sich Rückfragen an den Besuch von IM Seehofer in der Türkei am 03. Oktober. Seehofer hat ja inzwischen erkannt, dass politische Härte und die Gewöhnung an “grausame Bilder”, wie de Maizière sie 2015 gefordert hat, in Deutschland zu kaum moderierbaren Situationen führen. Besser scheint ihm jetzt, die Nekropolitik der Migrationsabwehr hinter einem freundlichen Gesicht zu verstecken und mit dem Außenminister einen arbeitsteiligen Sprech zu pflegen.

Am Flüchtlingspakt mit der Türkei müsse unbedingt festgehalten werden, sagte Seehofer. Das betonten auch Seehofers griechische Gesprächspartner, Bürgerschutzminister Michalis Chrysochoidis und Premier Kyriakos Mitsotakis. […]

Auch Erdoğans Plan, eine Million Syrer aus der Türkei in eine „Sicherheitszone“ in Syriern umzusiedeln, war Thema der Gespräche mit Innenminister Süleyman Soylu und Vizepräsident Fuat Oktay. Dazu sagte Seehofer, hierüber müsse die Türkei erst einmal mit den USA einig werden. „Vorher kann man nicht von mir verlangen, dass ich dazu Yes oder No sage.“ Erdoğan will auch für den Bau neuer Städte in Syrien offenbar finanzielle Unterstützung.

Nach dem Rückzug der USA klingt dieses Statement, bei allen Dementis, eher nach einem Yes. In einem Kommentar schrieb Christiane Schlötzer in der Süddeutschen Zeitung, anlässlich des Seehofer-Auftritts in Ankara:

Ein Blick auf türkische Landkarten hilft, Präsident Recep Tayyip Erdoğan hält sie derzeit gern ins Licht. Sie zeigen […] die Grenze zu Syrien. Erdoğan hat auf diesen Karten neue Kleinstädte einzeichnen lassen, 140 genau – allerdings auf der syrischen Seite. Für eine oder für zwei Millionen Flüchtlinge, da schwanken die Angaben. Die Kosten für das syrische „Wonderland“ werden genau beziffert: 24,4 Milliarden Euro. Wer soll das bezahlen?

Die Türkei kann es nicht, sie steckt in einer Wirtschaftskrise. Erdoğan setzt auf die Europäer, die sich vor einer neuen Flüchtlingswelle aus dem Nahen und Fernen Osten fürchten. Immer wieder hat er gedroht, er könne die Grenzen seines Landes „öffnen“, sollten seine Wünsche nicht von der EU erhört werden.

Was der Präsident übersieht: Die EU kann keinen völkerrechtswidrigen Einmarsch auf syrisches Gebiet unterstützen. Das würde sie tun, wenn sie Erdoğan bei seinem Umsiedlungsprojekt hilft. Denn da, wo türkische Baufirmen, die gerade wegen der Krise in höchster Bedrängnis sind, ein neues Betätigungsfeld suchen, ist keineswegs Niemandsland.

Gut 30 Kilometer tief soll die von Erdoğan erdachte Sicherheitszone in syrisches Territorium hineingreifen, auf einer Länge von 480 Kilometern. Diese Region ist überwiegend kurdisch geprägt. Die linke kurdische Partei PYD und ihre Miliz YPG haben dort eine Art Autonomie errichtet. Erdoğan möchte, dass die YPG verschwindet. Aber sie wird sich nicht in Luft auflösen. Wieder würden Menschen fliehen, nur wohin? Viele werden versuchen, nach Europa zu gelangen, sie wissen, die Türkei will sie nicht.

Angriff auf Rojava