Wie Deutschland war Italien eine »späte Kolonialmacht«. Sie beherrschte Gebiete im heutigen Eritrea (1882), Somalia (1888), Libyen (1911 und 1934) und Äthiopien (1935). Die Hochphase des italienischen Kolonialismus fällt in die Zeit des Faschismus nach Mussolinis Machtergreifung 1922. Was diese Überschneidung bedeutete und welche Kontinuitäten das koloniale Denken in Italien bis heute hat, ist Gegenstand des vorliegenden Interviews, das Johanna Wintermantel für iz3w mit einem Mitglied des italienischen Kollektivs Wu Ming (früher Luther Blisset) geführt und aus dem Italienischen übersetzt hat. Das Interview wurde in der Ausgabe 373, Juli / August 2019, veröffentlicht.

Das Projekt will in seinen Romanen, Artikeln und Veranstaltungen wenig bekannte Aspekte und ungewöhnliche Lesarten historischer Zusammenhänge herausarbeiten und mit aktuellen Fragestellungen verknüpfen. Ein inhaltlicher Schwerpunkt von Wu Ming liegt auf dem italienischen Kolonialismus. Dabei wird von dem Kollektiv dezidiert auf den antikolonialen Widerstand in Nord- und Ostafrika hingewiesen sowie auf dessen Kooperation mit der italienischen antifaschistischen Resistenza.

Wir reproduzieren das folgende Interview mit freundlicher Genehmigung von Johanna Wintermantel und der Redaktion des IZ3W.

iz3w: Wo liegen Anfang und Ende des italienischen Kolonialismus?

Wu Ming: Den Beginn setzt man gewöhnlich mit dem Erwerb einer Bucht in Assab an der eritreischen Küste im Jahr 1882 an. Das geschah wenige Jahre nach der Einigung Italiens, in der liberalen Epoche. Der italienische Kolonialismus dauerte bis zum Zweiten Weltkrieg. Dem folgte noch eine Fortsetzung, die treuhänderische Verwaltung Somalias durch Italien, als die Vereinten Nationen 1949/50 Somalia für zehn Jahre an Italien als Protektorat übergaben. Somalia sollte damit auf den Weg zur Demokratie gebracht werden, bis zu einer vorgeplanten Unabhängigkeit im Juli 1960. Die Somalier verspotteten diese schöngefärbte Verlängerung des Kolonialismus unter dem offiziellen Titel »Amministrazione Fiduciaria Italiana della Somalia«. Sie lasen das Akronym AFIS als »Ancora Fascisti Italiani in Somalia« – noch immer italienische Faschisten in Somalia. Es war absurd, dass Italien nach zwanzig Jahren Mussolini-Diktatur die Demokratie bringen sollte.

Offensichtlich wurde Somalia nur deshalb Italien angegliedert, weil der damalige italienische Ministerpräsident De Gasperi bei den Vereinten Nationen, zu denen Italien damals noch nicht gehörte, erfolgreich die italienischen Interessen voranbrachte. Er sagte, Italien habe dank der Resistenza auch einen Beitrag zum Sieg über den Faschismus in Europa geleistet und dürfe daher nicht durch den Entzug aller Kolonien erniedrigt werden. Es müsse zumindest eine Kolonie bei Italien verbleiben. De Gasperi zielte auf Libyen, bekam aber Somalia.

Der italienische Kolonialismus begann schon vor dem Faschismus. Hat der italienische Kolonialismus in der faschistischen Periode einen anderen Charakter angenommen?

Ja, es gab einen qualitativen Sprung im italienischen Kolonialismus. Nehmen wir Somalia und Libyen. Somalia wurde in der Periode des faschistischen Regimes von einem führenden Faschisten der ersten Stunde regiert, Cesare Maria De Vecchi di Val Cismon. Nach seiner fünfjährigen Zeit als somalischer Gouverneur beschrieb er in einem Buch alle Maßnahmen, die er ergriffen hatte, um die Kolonie zu unterwerfen. Der vorige Kolonialismus der liberalen Epoche war zwar ebenfalls inhuman, aber seine Kontrolle über das Territorium war nachlässiger. Viele der kolonial Unterworfenen waren bewaffnet, ohne in die italienische Armee eingegliedert zu sein. Es gab lokale Herrscher, Sultane, die ihre Unterordnung versichert hatten, aber ihre kleinen Armeen behielten. Es gab Truppen, die den verschiedenen somalischen Clans – eigentlich qabiil – angehörten.

De Vecchi ließ alle Milizen entwaffnen, denn das Gewaltmonopol sollte ausschließlich italienisch sein. Das gelang nur mittels starker Repression. Dabei ging De Vecchi mit sogenannten demonstrativen Aktionen wie Stockschlägen und Erschießungen vor. Das waren sehr gewalttätige Jahre, in denen in gewisser Weise die Methoden angewandt wurden, die in Italien in den «zwei roten Jahren« von 1919/20 aufkamen, als die faschistischen Schlägertrupps im Land umhergingen und alle angriffen, die irgendwie opponierten.

In Libyen war das noch stärker ausgeprägt. Libyen war im italienisch-türkischen Krieg von 1911 zur italienischen Kolonie geworden. Aber mit dem Ersten Weltkrieg hatte Italien de facto wieder die Kontrolle darüber verloren, außer entlang der Küste. Im Landesinneren gab es Oasen, die komplett von libyschen Mächten verwaltet wurden. Der Faschismus machte sich auch hier an die vollständige Eroberung des Territoriums. General Graziani – der später auch beim Angriff auf Äthiopien und während seiner dortigen Regierungszeit als Vizekönig Kriegsverbrechen beging – entschied, dass die widerständigen Partisanen durch Deportation von der Bevölkerung zu isolieren seien. Es wurden Zehntausende aus den Regionen Fessan und Cirenaika in Konzentrationslager entlang der Küste zwangsdeportiert. Viele starben dort an den desaströsen Lebensbedingungen.

Es gibt also beachtenswerte Unterschiede zwischen dem liberal-königlichen und dem faschistischen Kolonialismus. Dazu kommt noch die faschistische Rassengesetzgebung. Es ist nicht so, dass das liberale Italien nicht auch schon diskriminierende Gesetze gehabt hätte, die etwa bezweckten, die Indigenen von den ItalienerInnen zu trennen. Doch die faschistischen Rassengesetze waren wesentlich härter.

Ihr zitiert den Historiker Angelo del Boca, der schreibt, Äthiopien sei ein Laboratorium gewesen, in dem ein sogenanntes ‚zivilisiertes‘ Volk seine niedrigsten Instinkte und Techniken des Genozids ausprobierte. Waren die Kriegsverbrechen in den kolonisierten Ländern eine Schule des Faschismus?

Es gibt einen berühmten Satz des antikolonialen Theoretikers Aimé Césaire, der besagt, dass der große Skandal des Nationalsozialismus darin bestand, dass Hitler auf europäische Bevölkerungen die Methoden anwandte, die die EuropäerInnen schon immer in aller Ruhe in den Kolonien praktiziert hatten. Auch wenn es nicht dieselben Methoden waren, trifft der Satz einen wichtigen Punkt. Für Italien trifft er in Form eines Teufelskreises zu: Der Faschismus entsteht in Italien bereits als eine Bewegung, die Dissens gewaltsam unterdrückt. Er agiert als bewaffneter Arm der Großgrundbesitzenden gegen die HilfsarbeiterInnen, die in den zwei roten Jahren 1919/20 streikten, und gegen die roten Kooperativen. Diese frühe repressive Gewalt formt sich, sobald sie mit den ‘Wilden’ konfrontiert ist, in einem für Europa unerhörten, noch weiter enthemmten Maße aus – und dann kehrt sie zurück. Aus dieser Sicht ist die Gewalt in Äthiopien – und zuvorderst die libyschen Konzentrationslager – etwas, das man bis zu diesem Zeitpunkt in den Kriegen Italiens noch nicht kannte.

Dann, in Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Verbündeten, folgte der Einsatz von Giftgas in Äthiopien. Das war ebenfalls etwas Neues in den italienischen Kriegen. Und die italienischen Streitkräfte waren weltweit die ersten, die ein Fliegerbombardement auf zivile Wohngebiete erprobten, nämlich schon in Tripolis 1911. Die italienischen Flieger warfen Bomben direkt mit der Hand aus den Flugzeugen auf die Oase von Tripolis. Damit war ein Typus von Grausamkeit in der Welt, der schnell nach Europa importiert wurde. Zuerst mit den faschistischen Bombardements in Barcelona und Katalonien, dann im Zweiten Weltkrieg.

Ich denke, dass die Hypothese Del Bocas zutrifft. Sehr oft wurden die kolonialen Gewaltexzesse von der italienischen Presse damit gerechtfertigt, dass zuerst die Afrikaner rohe Gewalt angewandt hätten. Als Reaktion musste man sich noch entschlossener zeigen. Zu diesem Zweck wurden etwa Fotos von enthaupteten äthiopischen Widerstandskämpfern verbreitet: Man sagte, es seien auch Italiener geköpft worden und man dürfe die Antwort nicht schuldig bleiben. Mit der Behauptung, in Afrika herrsche Barbarei, konnte man dort auf ein Gewaltniveau kommen, das in Europa bislang unbekannt war.

Wu Ming betont, dass in den italienischen Kolonien auch starke Widerstandsbewegungen existierten. Waren sie eine ernsthafte Bedrohung der kolonialen Pläne Italiens?

Definitiv ja. Das galt aber nicht nur für die kolonialen Aktivitäten, sondern auch für den italienischen Faschismus. Die Widerstandsbewegungen der Kolonien beschäftigten italienische Truppen, die der Faschismus sonst auf andere Ziele gerichtet hätte. Der libysche Widerstand gegen die italienische Besatzung dauerte ungefähr zwanzig Jahre. Den FaschistInnen gelang es nur in den frühen 1930er Jahren, sich zu behaupten, und der Faschismus war über fünf Jahre mit einem Wiedereroberungskrieg beschäftigt. Dieser erwies sich als schwierig, auch dank einer Persönlichkeit des Widerstands wie Omar Al-Mukhtar, der sehr effizient Guerillaaktionen in Libyen koordinierte.

Die Tatsache, dass der Widerstand in den Kolonialländern das italienische Regime in Schwierigkeiten bringen konnte, wurde zur Zeit des Krieges gegen Äthiopien sehr gut begriffen, auch von den italienischen AntifaschistInnen. Und zwar so weit, dass drei von ihnen – Mitglieder der Kommunistischen Partei Italiens, die schon Guerillaerfahrungen insbesondere in Spanien gemacht hatten – nach Äthiopien gingen, um die äthiopischen GuerillakämpferInnen im Bombenbau und in Sabotage zu unterrichten. Ilio Barontini ist der bekannteste dieser drei. Barontini war im Spanischen Bürgerkrieg aktiv, hatte in Moskau eine Guerillaschule der Roten Armee besucht, und er spielte dann eine wichtige Rolle im italienischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und den Faschismus. Er war Kommandant der militärischen Führung der Resistenza in der strategisch bedeutsamen Region Emilia-Romagna.

Ilio Barontini ging mit genauen Vorstellungen nach Äthiopien: Den Faschismus in Äthiopien zu bekämpfen bedeutete, den Faschismus überhaupt zu bekämpfen. Antifaschistischer Widerstand war damals, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, in Italien noch nicht möglich. Es waren zuerst die Libyer und die Äthiopier, die militant gegen den Faschismus vorgingen. Die Widerstandsbewegungen gegen den italienischen Kolonialismus haben wesentlich dazu beigetragen, das faschistische Regime zu besiegen.

Ihr schreibt: Wenn wir die koloniale Verdrängung nicht verstehen, werden wir auch den heutigen Rassismus nicht verstehen. Kannst Du diese Behauptung erklären?

Koloniale Verdrängung ist ein kompliziertes Konzept. Auch wir gebrauchen den Terminus in seiner umgangssprachlichen Bedeutung. Aber man muss vorsichtig sein, da Verdrängung auch ein psychoanalytischer, freudscher Begriff ist: Das Individuum verdrängt etwas in der Regel unbewusst. Wenn es sich für eine Handlung schämt, die es ausgeführt hat, löscht sein Gedächtnis sie. Die italienische koloniale Verdrängung ist keine solche Verdrängung. Ich würde in den meisten Fällen eher von einer Zensur sprechen. Sie geschieht nicht unbewusst. Vielmehr hat man sich bewusst dazu entschieden, nicht vom Kolonialismus zu sprechen, ihn nicht darzustellen, ihn als Thema von Filmen oder Literatur zu vermeiden. Teilweise lag das daran, dass der Kolonialismus einfach mit dem Faschismus assoziiert wurde. So konnte man sich sagen, dass man beide überwunden habe. Wie Italien sich durch die Resistenza vom Faschismus befreit hatte, so war auch irgendwie die koloniale Vergangenheit Italiens damit reingewaschen.

Diese Zensur war keine offizielle, gesetzlich fixierte, sondern eine Zensur des kollektiven Bewusstseins. Sie war der Tatsache geschuldet, dass das Bild des kolonialistischen Italien nicht mit dem Bild des »anständigen Italieners« von sich selbst übereinstimmte, das man in der Nachkriegszeit vermitteln wollte. Die ItalienerInnen imaginierten sich lieber als Leute, die trotz des Faschismus, trotz des Krieges, trotz des Bündnisses mit Hitler im Grunde anständig waren. Der Ausdruck bezieht sich vor allem auf den Krieg gegen die Sowjetunion und den Unterschied, den die Sowjets angeblich zwischen den deutschen und den italienischen Truppen gemacht hätten. Die deutschen Nazis hätten als gewalttätiger und vernichtungswilliger gegolten, die Italiener dagegen als anständig. Gezwungenermaßen in diesen Krieg gezogen, hätten sie eigentlich lieber einen Becher Wodka mit den russischen Bauern und Bäuerinnen getrunken und in Frieden gelebt.

Diese Idee, die auch im Film zelebriert wurde, übertünchte in der Nachkriegszeit jedes andere Bild des »Italieners«. Ein abweichendes Bild war nicht erzählbar und wäre auch nicht wahrgenommen worden. Dieselbe Funktion erfüllte das Bild des »Italieners als Opfer«. Es ist bereits ein Mythos der italienischen Einheit 1861, sich als Opfer fremder Mächte darzustellen, welche das Land besetzten, welche die ItalienerInnen voneinander getrennt hielten, welche sie schwächten oder sie zwangen zu emigrieren. Alle Aggressionen, die Italien zu verantworten hat, werden gewissermaßen aus diesem Opferstatus erklärt. Jede abweichende Erzählung über das italienische Agieren verursacht also eine kognitive Dissonanz, das heißt eine Unfähigkeit, die Erzählung zu vernehmen, weil das, was da erzählt wird, nicht der Erwartung entspricht.

Kann man aus diesem italienischen Selbstbild heraus verstehen, warum zum Beispiel der rechte Innenminister Salvini rassistisch agieren kann oder warum Italien mit Libyen menschenrechtswidrige Abkommen gegen MigrantInnen abschließt?

Das Bild vom »anständigen Italiener« unterstützt heute die Darstellung, Italien sei ein Opfer Europas, das sich nicht für den italienischen Notstand bei der Migration interessiert, ihn vielmehr auf den Schultern Italiens ablädt, eines Landes, das sich abgemüht hat, diese Menschen unterzubringen, denn die ItalienerInnen seien eben brave Leute – aber irgendwann reiche es. Der Flüchtlingsstrom sei zu groß geworden und daher müsse man jetzt stur bleiben, auf den Tisch hauen, von Europa verlangen, dass es auch seinen Teil beiträgt, denn Italien wolle nicht ständig das Opfer sein.
Dieses Denken ermöglicht ein reines Gewissen: Im Grunde seien wir ein gastfreundliches Volk und keine RassistInnen – und die Gespenster des Faschismus und des Kolonialismus bleiben auf Distanz. In den Lagern von heute scheinen dann nicht die Lager von damals durch. Salvini bekommt dadurch den Spielraum für seine Rhetorik, denn niemand steht auf und sagt: Wartet mal! Diese Leute kommen aus ehemaligen Kolonien, vor allem von Libyen her, und auch aus Somalia und Eritrea. Warum kommen sie nach Italien? Gibt es da nicht eine Vergangenheit, die uns etwas sagt? Gibt es nicht etwas, was wir als erste getan haben in jenen Ländern, und was uns zu Aggressoren macht, nicht zu Opfern?

Wu Ming ist ein italienisches Schriftstellerkollektiv, das unter anderem an der kolonialismuskritischen Initiative »Resistenze in Cirenaica« in Bologna beteiligt ist. Das Interview führte und übersetzte Johanna Wintermantel.

»Die koloniale Gewalt kehrt zurück«