Der Berliner Tagesspiegel hat Korrespondenten nach Italien, Griechenland und Bosnien geschickt, um zu recherchieren, wie an Brennpunkten der Migration mit Geflüchteten umgegangen wird. Sie berichten über Riace, Lesbos und Bosniens am weitesten westlich gelegene Kommune Velika Kladusa.

Riace

Vor einigen Tagen beherrschte das Städtchen Riace in Kalabrien wieder einmal die Schlagzeilen in ganz Italien. In den frühen Morgenstunden war Bürgermeister Domenico Lucano verhaftet und unter Hausarrest gestellt worden. Er soll der Scheinehe einer von der Ausweisung bedrohten Nigerianerin mit einem Einheimischen zugestimmt haben.

Außerdem wird Lucano vorgeworfen, in seinem Bergdorf eigenmächtig eine Müllabfuhr mit Eseln ins Leben gerufen zu haben, ohne dass der entsprechende Auftrag zuvor öffentlich ausgeschrieben wurde. In Rom, Mailand, Neapel und in Reggio Calabria kam es umgehend zu Solidaritätskundgebungen für den Bürgermeister.

Lucano ist Schöpfer und treibende Kraft des „Modells Riace“ – in Italien eine Ikone der Flüchtlingsintegration. Das kleine Bergstädtchen mit seinen alten Steinhäusern und dem atemberaubenden Blick auf das tiefblaue Ionische Meer hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten schon Tausende Asylbewerber aufgenommen.

Derzeit leben in Riace rund 600 Migranten und 900 Einheimische. In den engen Gassen der kleinen Altstadt oder auf dem Spielplatz außerhalb des Dorfes spielen einheimische Kinder zusammen mit ihren Altersgenossen aus Syrien, Somalia, aus Afghanistan, dem Irak, Eritrea, Togo und vielen anderen Ländern. Migranten aus mehr als 20 Herkunftsländern haben in dem Ort Zuflucht gefunden. […]

Lesbos

Beginnen die Herbststürme in Griechenland, findet auch das Schicksal der Flüchtlinge auf den Ägäisinseln wieder mehr Aufmerksamkeit. Fassungslos nehmen Griechen wie internationale Beobachter zur Kenntnis, dass die Behörden des Landes auch im dritten Jahr seit dem Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei offenkundig nicht in der Lage sind, Menschen, die weiterhin in Zelten untergebracht sind, vor Überflutungen durch Regenfälle zu schützen.

So schlängelten sich jüngst nach dem Sturmtief „Zorbas“ Wasserbäche durch die Zeltdörfer im Lager Moria auf Lesbos. Ärzte ohne Grenzen veröffentlichten in den sozialen Medien das Bild von Frauen und Kindern, die dicht nebeneinanderliegend die Regennacht in einem Lagerhaus bei Moria verbrachten. Angesichts von EU-Mitteln in Höhe von wenigstens einer Milliarde Euro seit dem Beginn der Flüchtlingskrise seien die Zustände in Moria, dem größten der Internierungslager auf den Inseln, ein Unding, sagen viele.

Die renommierte Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) wies in einem Bericht auch wieder auf das enorme Ausmaß an psychischen Erkrankungen unter den Lagerbewohnern hin. 30 Prozent der Patienten einer Beratungsstelle des IRC auf Lesbos hätten bereits einen Suizidversuch hinter sich, heißt es. Eine „nationale Schande“ nennt der Vorsitzende der konservativen Oppositionspartei Nea Dimokratia, Kyriakos Mitsotakis, das nach wie vor völlig überfüllte Lager. 7440 Insassen waren dieser Tage in Moria registriert – ausgelegt ist der sogenannte Hotspot der EU eigentlich für 3100 Menschen.

Mitsotakis’ Interesse an Moria ist nun umso größer geworden, als sich der Verteidigungsminister der Regierung, Panos Kammenos, gegen Vorwürfe wehren muss, ihm nahestehende Unternehmer hätten EU-Mittel für Flüchtlinge betrügerisch verwendet und Rechnungen für verschiedene Dienstleistungen in den Lagern aufgebläht. Die Verpflegung der Flüchtlinge und den Unterhalt der Camps hat die griechische Armee zum Teil übernommen oder an Unternehmen ausgelagert. […]

Bihac

Der Nordwestzipfel des Vielvölkerstaats ist zur neuen Sackgasse auf der sich ständig ändernden Balkanroute geworden. Seit Jahresbeginn sollen mehr als 7000 Flüchtlinge in Bosnien und Herzegowina registriert worden sein. Gut die Hälfte von ihnen ist im grenznahen Kanton Una-Sana gestrandet. Allein in Bihac wird deren Zahl auf fast 3000 geschätzt.

In Bosniens am weitesten westlich gelegener Kommune Velika Kladusa sind es rund 500 Flüchtlinge, die in dem überschwemmten Lager auf bessere Zeiten hoffen – und auf die Überwindung von Sloweniens nur 70 Kilometer entfernter Schengengrenze. Froh sei niemand über die unerwünschten Grenzgänger, berichtet eine blonde Mittfünfzigerin. „Es gibt unter den Flüchtlingen wunderbare Menschen – aber eben auch problematische Leute.“

Zwar würden Anwohner Essen und Kleidung ins Lager bringen. „Wir Bosnier haben im Krieg selbst erfahren, was es bedeutet, das eigene Heim verlassen und fliehen zu müssen.“ Doch viele seien gleichfalls durch Einbrüche und den Tod eines im Juni erstochenen Marokkaners beunruhigt. „Es sind einfach sehr viele Menschen. Und es werden immer mehr. Sie kommen zu uns, weil wir nahe an der Grenze liegen.“ […]

Der Tagesspiegel | 08.10.2018

„Italien, Griechenland, Bosnien: Was sich an den Zufluchtsorten abspielt“