Der allergrößte Teil der Afrikaner, die ihr Land verlassen, bleibt auf dem Kontinent. In der hiesigen Flüchtlingsdebatte spielt das keine Rolle. Derweil kursieren Pläne von Kapitalseite, wie mit Investitionen Arbeitsplätze vor Ort geschaffen werden sollen

Von Christa Schaffmann

Für Oktober ist das Erscheinen eines Buches unter dem Titel »Nach Europa! Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent« angekündigt, das eine Art Horrorszenario für Europas Zukunft infolge afrikanischer Migration beschreibt. Der Autor Stephen Smith ist ein US-amerikanischer Anthropologe und Journalist mit langjähriger Afrikaerfahrung. In dem in Französisch bereits vorliegenden Band »La ruée vers l’Europe« hat er die These aufgestellt: »In etwas mehr als dreißig Jahren wird ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung Europas afrikanischer Herkunft sein.« Das wären dann zwischen 150 Millionen und 200 Millionen afrikanisch stämmiger Menschen gegenüber neun Millionen heute. Er begründet diese These mit einer seines Erachtens absehbaren Krise auf dem südlichen Kontinent und kritisiert europäische Politiker, die meinten, einen wie auch immer gearteten Zaun um Europa ziehen zu können.

Solche Szenarien dürften den Rechten gefallen, die von »Horden« sprechen, die Europa überschwemmen, obwohl die Zahl der Flüchtlinge, die in der Europäischen Union ankommen, abnimmt und ohnehin nur ein kleiner Teil der weltweit zur Flucht Gezwungenen den Weg dorthin nimmt. Sie dürften aber auch bei Teilen der Regierungsparteien willkommen sein, die die Verunsicherung von Bürgern instrumentalisieren, um eine verschärfte Sicherheitspolitik durchzusetzen. Wie Demonstrationen vieler sogenannter besorgter Bürger an der Seite von Pegida, AfD und »Identitären« zeigen, funktioniert die bewusste Verdrehung von Tatsachen. Längst herrscht auch außerhalb der Rassisten- und der Neonaziszene eine Wahrnehmungsverzerrung vor.

Sonderwirtschaftszonen

Weniger reißerisch als Smith argumentieren Alexander Betts und Paul Collier von der University of Oxford. Collier gehört zu den führenden Experten für afrikanische Wirtschaft und die Ökonomien der Entwicklungsländer. Betts und Collier nehmen in ihrem Buch »Gestrandet«[1]Alexander Betts/Paul Collier: Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist, München 2017 Veränderungen in Afrika seit dem Ende des Kalten Krieges in den Blick. So habe die Zahl instabiler Staaten dramatisch zugenommen, wodurch sich auch Flucht und Fluchtursachen radikal verändert hätten. Zwischen Flucht und Migration ließen sich heute kaum mehr klare Grenzen ziehen.

Die Kernbotschaft von Collier und Betts: Es ergibt keinen Sinn, Flüchtlinge viele Tausende Kilometer entfernt von ihrer ursprünglichen Heimat neu anzusiedeln. Eine solche radikale Entwurzelung sei weder soziologisch noch ökonomisch sinnvoll. Die Geflüchteten sollten statt dessen arbeiten dürfen, am besten in Sonderwirtschaftszonen in der Nähe ihrer Heimat. »Es muss uns darum gehen, die Selbständigkeit der Flüchtlinge durch Arbeitsplätze und Bildung wiederherzustellen. Und das insbesondere in den Entwicklungsländern, die in aller Regel die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge beherbergen.« Auch Unternehmen aus den Kriegsgebieten könnten sich dort vorübergehend ansiedeln und so ihre Betriebe weiterführen, unterstützt von Investitionskrediten der Weltbank und ausgestattet mit einem Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Damit eine Sonderwirtschaftszone für das Gastland attraktiv wird, müsse es auch selbst davon profitieren. In Jordanien gibt es seit einem Jahr ein solches Experiment. Unterstützt von der EU wurden dort mehrere Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, in denen syrische Flüchtlinge beschäftigt sind. 200.000 Arbeitsplätze sollen dort entstehen.

Das klingt auf den ersten Blick vernünftig. Aber wer richtet diese Wirtschaftszonen ein, wer investiert und produziert dort? Wem kommen die Gewinne zugute? Was soll dort hergestellt werden? Wer soll die Zonen vor bewaffneten Milizen schützen? Wer finanziert die Ausbildung der Arbeiter? Oder geht es eigentlich nur darum, billige Arbeitskräfte nicht auf dem eigenen Territorium dulden zu müssen, sondern sie gleich dort, wo sie gestrandet sind, ausbeuten zu können?

95 Prozent der afrikanischen Migration finden innerhalb des Kontinents statt – und das seit langem. Subsahara-Afrika allein beherbergt derzeit über sechs Millionen Flüchtlinge, ein Viertel aller Flüchtlinge weltweit und rund dreimal so viele wie Europa. Einige Länder – die meisten von ihnen im östlichen Afrika – bieten inzwischen mehreren hunderttausend Flüchtlingen Schutz, zumeist stammen diese aus den Nachbarstaaten. Spitzenreiter ist seit dem vergangenen Jahr Uganda (1,35 Millionen Geflüchtete), gefolgt von Sudan (906.000) und Äthiopien (889.000). Allein Uganda und Sudan nahmen im Jahr 2017 zusammen rund eine Million vor allem aus dem Südsudan stammende Menschen auf.

In vielen Ländern Afrikas ist der sogenannte Migrationssaldo positiv: Die Zahl der Immigranten übersteigt jene der Emigranten. Das gilt – wenig überraschend – z. B. für Südafrika, das wirtschaftlich entwickelste Land des Kontinents, wo zwischen vier und fünf Millionen Zugewanderte rund einer Million ausgewanderten südafrikanischen Bürgern gegenüberstehen. Es gilt aber auch für Länder wie Kenia, Äthiopien, Uganda oder Elfenbeinküste. Von den weltweit 66 Millionen Heimatvertriebenen haben 86 Prozent im Süden und nicht im wohlhabenderen Norden Zuflucht gefunden. Willkommen sind die Flüchtlinge in Südafrika nicht unbedingt, wie heftige Auseinandersetzungen im Frühjahr gezeigt haben, als Häuser und Geschäfte von Ausländern angezündet wurden und sechs Menschen dabei ums Leben kamen. Die alte Kultur der Gastfreundschaft trifft auf eine Gesellschaft, in der neue, andere Werte an Bedeutung gewonnen haben.

Die Livelihood-Forschung (Lebensunterhalt) sieht in der Migration bzw. den Wanderungsbewegungen von vielen Afrikanern seit Jahrhunderten ein strategisches Vorgehen und einen Bestandteil der kollektiven Existenzsicherung. Familienmitglieder brechen auf vom Land in die Stadt, von der Stadt in ein benachbartes oder gar ein entferntes Land. So entstehen translokal organisierte Haushaltsgemeinschaften mit sozialen, emotionalen und kulturellen Bindungen zwischen Akteuren an unterschiedlichen Orten. Darüber hinaus wachsen Kooperationsbeziehungen in Form von Geld-, Waren-, Personen- und Informationstransfer. Diese sind Bestandteil der afrikanischen Kultur.

In dem Aufbruch eines oder mehrerer Familienmitglieder sieht Theo Rauch, freiberuflich tätiger Honorarprofessor sowie entwicklungspolitischer Gutachter und Trainer auch eine zweite Initiation: Junge Männer (in wachsendem Maße migrieren auch Frauen) brechen an einem bestimmten Punkt ihres Lebens in Absprache mit der Familie auf, um anderswo Erfahrungen zu sammeln, etwas zu lernen und später eventuell zurückzukommen oder das translokale, immer öfter auch transnationale Netzwerk der Familie zu erweitern und damit künftig Anlaufstelle für andere Familienmitglieder zu sein. Sie unterstützen ihre Familie, entwickeln aber auch andere Beziehungen. Diese afrikatypische Normalität von Migration dürfe, so Rauch, jedoch nicht den Eindruck erzeugen, als gäbe es keinen ökonomisch oder politisch bedingten Zwang zur Migration.

Migrationsziele

Die Zahl afrikanischer Migranten, die vom 1. Januar bis zum 21. August 2018 Europa erreicht haben, beträgt 40.000. Das liegt deutlich unter dem Schnitt der letzten Jahre. Laut einer Studie des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center sind zwischen 2010 und 2017 allein aus Subsahara-Afrika rund eine Million Menschen in die EU eingereist – im Durchschnitt deutlich über 100.000 pro Jahr. Eine Analyse der Herkunftsländer der Migranten zeigt: Das Gros stammt aus einigen wenigen der 54 Staaten des afrikanischen Kontinents. Im laufenden Jahr sind das vor allem Guinea und Mali in Westafrika, die Maghrebstaaten Tunesien und Marokko sowie Eritrea am Horn von Afrika. Die große Mehrheit der Staaten des Kontinents ist für die europäische Migrationsdebatte also völlig unbedeutend.

Die Fakten von heute liefern bestenfalls Indizien für die Zukunft. Deshalb lohnt ein Blick auf einige Umfragen, auch wenn die Ergebnisse solcher Erhebungen mit Vorsicht zu betrachten sind. Sitzt ganz Afrika auf gepackten Koffern nach Europa? Verschiedene Meinungsforschungs­institute haben sich jüngst mit dieser Frage befasst. Laut einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2017 haben in Subsahara-Afrika 31 Prozent aller Menschen den Wunsch zu emigrieren. In Nordafrika (inklusive des Nahen Ostens) sind es 22 Prozent. Das Meinungsforschungsinstitut Pew fragte im Frühjahr 2018 eine repräsentative Anzahl von Personen in sechs afrikanischen Ländern, ob sie, sofern sie die Mittel und die Möglichkeit dazu hätten, auswandern würden. Diese Frage bejahten 43 Prozent der Teilnehmer aus Tansania und 75 Prozent aus Ghana. Danach gefragt, ob sie die Absicht hätten, in den nächsten fünf Jahren das Land zu verlassen, antwortete allerdings in allen sechs Ländern (Ghana, Kenia, Nigeria, Senegal, Südafrika und Tansania) die Mehrheit der Befragten mit »Nein«.

Die Pew-Umfrage beschränkte sich auf jene sechs afrikanischen Länder, aus denen in den vergangenen Jahren im kontinentalen Vergleich die meisten Personen emigriert sind. Eine unlängst erschienene Umfrage des afrikanischen Meinungsforschungsinstituts Afrobarometer relativiert denn auch die Pew-Ergebnisse. Afrobarometer befragte eine repräsentative Anzahl von Personen in neun afrikanischen Ländern, ob sie in Erwägung zögen, ihr Land zu verlassen. Im Durchschnitt bejahten die Frage 16 Prozent der Befragten; weitere 19 Prozent gaben an, zumindest hin und wieder mit diesem Gedanken zu spielen.

Europa ist für jene Afrikaner, die migrieren möchten, ein wichtiges Ziel, aber längst nicht das wichtigste. Zu diesem Schluss kommt die erwähnte Afrobarometer-Studie. Im Durchschnitt nennen 20 Prozent der Befragten Europa als primäres Migrationsziel. 47 Prozent möchten in ein anderes afrikanisches Land auswandern. Dass längst nicht alle afrikanischen Migranten nach Europa wollen, zeigt auch ein Blick auf die Migrationsrouten. Laut einem UN-Bericht war die Route zwischen Nordafrika und Frankreich 2017 am beliebtesten. Unmittelbar danach aber folgen nicht etwa Routen in andere europäische Staaten, sondern jene nach Saudi-Arabien und in die Vereinigten Arabischen Emirate.

Frappant sind die Unterschiede hinsichtlich des Wunsches zu migrieren insbesondere dann, wenn man nach Bildungsstand unterscheidet. Jeder vierte Afrikaner mit einem Hochschulabschluss möchte sein Land verlassen, bei Personen ohne Schulabschluss ist es knapp jeder zehnte. Dagegen wird in Europa der Faktor Bildung häufig irrtümlich als Voraussetzung dafür angesehen, dass Menschen nicht migrieren. Mehr Wissen über die Gefahren auf Fluchtrouten, die Schwierigkeiten in einem anderen Land mit anderer Sprache, anderer Kultur, häufig auch mit Rassismus – so die Annahme – würde Migration stoppen oder mindestens verringern. Nichts deutet darauf hin, dass dies zutrifft. Es sind schon heute nicht die jungen Menschen aus den ärmsten Familien, die sich als Arbeitsmigranten auf den Weg in die Ferne machen, sondern eher solche aus mittelständischen. Bildung ist in vielen Fällen ein migrationsfördernder Faktor.

Wünsche des Kapitals

Es gibt weitere Gründe, weshalb nicht nur deutsche Afrikaexperten – anders als vor allem Smith, aber auch seine beiden Kollegen aus Oxford – den Migrationsdruck auf Europa geringer einschätzen. Wirtschaftsvertreter sehen seit den verheerenden Zeiten des Kolonialismus derzeit die besten Chancen für eine ökonomische Entwicklung Afrikas: Technologien wie Mobilfunk und Internet sowie die Verbesserung der afrikanischen Infrastruktur hätten neue Möglichkeiten eröffnet. Auch der beim Hamburger G-20-Gipfel gepriesene »Compact with Africa«, mit dem man ausgesuchten Volkswirtschaften unter die Arme greifen will, hat – anders als bei vielen Afrikanern – in der deutschen Wirtschaft Hoffnungen geweckt. Viele verweisen auf die europäische Expertise im Bereich der erneuerbaren Energien, die – wenn sie erschwinglich wären – in Afrika kleine Wunder bewirken könnten. Ein Jahr später ist von den in Hamburg verkündeten Vorhaben jedoch nichts umgesetzt, beklagt Stefan Liebing, Vorsitzender des »Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft«. »Das macht uns wütend.« Dabei fordert der Lobbyist vor allem Investitionsgarantien der Bundesregierung für mittelständische Firmen. Alles andere würde die Wirtschaft dann selbst auf die Beine stellen.

Der Investor George Soros ist davon überzeugt, dass viele afrikanische Volkswirtschaften mit einem jährlich 30 Milliarden Euro umfassenden »Marshallplan« in Schwung gebracht werden könnten. Wie viel den Europäern die langfristige Lösung der Migrationskrise wert ist, bliebe ihnen natürlich selbst überlassen, meint er. Entscheidend sei, sich bewusst zu machen, dass jeder in die Abschottung Europas investierte Euro unproduktiv, die eigene Freiheit behindernd und auf lange Sicht nutzlos ist – während dieselbe Münze, sinnvoll in Afrika investiert, jedem zugute käme, so Soros.

Widerspruch gegen die Panikmache von Smith kommt auch von Robert Kappel von der Universität Leipzig. Es sei nicht unbedingt die Schließung der Grenzen, die zu einer Reduzierung afrikanischer Migration nach Europa führe. Mi­grationsdämmend wirkt Kappel zufolge auch das schwache Wachstum Europas und das gleichzeitig Wachstum in zahlreichen afrikanischen Staaten, der verstärkte innerafrikanische Handel und die zunehmende Urbanisierung auf dem Kontinent, die nicht zuletzt eine Folge der chinesischen Afrikapolitik sei. »Afrika wendet sich China zu. Zwischen 500.000 und einer Million Afrikaner arbeiten bereits in China«, so Kappel im September bei einer Veranstaltung zu Arbeitsmigration in Berlin. Beijings Investitionen und die Nachfrage nach chinesischen Gütern in Afrika führten zur Migration afrikanischer Händler nach China. »China hat sehr gut verstanden, Migranten und mobile Händler in die eigene Exportstrategie einzubinden. Es hat vor allem verstanden, sich als globaler Netzwerker aufzustellen, Netzwerke von Chinesen und Afrikanern zu befördern, anstatt sie zu behindern.

Dazu gehört auch, die Mobilität afrikanischer Migranten zu unterstützen, beispielsweise durch zeitlich begrenzte Business-Visa für Afrikaner, die nach China reisen, um dort Waren einzukaufen. So entstehe eine moderne Form der globalen zirkulären Migration, in der Frauen eine hervorgehobene Rolle spielten. Afrikanische Händler spannen ihre Geschäfts- und Handelsnetzwerke, die früher überwiegend auf den afrikanischen Raum beschränkt waren, heute weltweit zwischen verschiedenen internationalen Handelsdrehscheiben, wie etwa Istanbul, Dschidda, Dubai, Bangkok, Hongkong oder Guangzhou.« Kappel machte außerdem auf derzeit 70.000 afrikanische Studenten in China aufmerksam. Ihre Zahl wachse jährlich um rund 10.000. Auf Nachfrage, ob die genannten Entwicklungen eine Änderung der deutschen und europäischen Politik gegenüber Afrika unter Mi­grationsgesichtspunkten überflüssig machten, fügte er hinzu: »Deutschland muss seine Einmischungsideologie beenden und eine vernünftige Einwanderungspolitik entwickeln, und Europa muss seine Handelsbeziehungen mit Afrika endlich fair gestalten.«

Der Geograph und Volkswirt Theo Rauch widerspricht Kappel. Dessen Thesen wirkten wie »zweckoptimistische Beruhigungspillen gegen rechte Panikmache«, schreibt er.[2]https://weltneuvermessung.wordpress.com/2018/05/11/zur-not-europa/ Das Wirtschaftswachstum spielt für Rauch nur eine untergeordnete Rolle, weil es für ein »Jobless growth« (beschäftigungsfreies Wachstum) stehe. 15 Millionen junge Menschen strömen in Afrika Jahr für Jahr neu auf den Arbeitsmarkt. Selbst zwei Millionen neugeschaffene Arbeitsplätze seien da nur ein Tropfen auf den heißen Stein, betonte er bei der erwähnten Podiumsdiskussion. Rauch rät, Auslandsinvestitionen in Afrika künftig nicht mehr am potentiellen Zuwachs des Bruttoinlandprodukts, sondern an geschaffenen Arbeitsplätzen zu messen. Und auch dem ökonomischen Strukturwandel als Migrationsbremse traut er nicht. Dieser sei schließlich weitgehend missglückt. Hinzu kämen Klimawandel, Wassermangel und Hunger in Folge von Landraub.

Judith Ohene, Geschäftsführerin der Weltfriedensdienstes e. V., geht noch einen Schritt weiter. Auch sie fordert eine faire Handelspolitik, nachdem die Europäische Union den Kontinent regelrecht ausgesaugt habe. Es gelte, junge afrikanische Unternehmer zu fördern und zu schützen, statt sie durch sogenannten freien Handel mit Konkurrenzprodukten aus Europa kaputt zu machen. Zudem appelliert sie, endlich zu hinterfragen, ob und wenn ja, inwieweit europäische Lösungen für Afrika angemessen sind.

Mangelnde Perspektiven

Europas Politiker haben in den vergangenen Monaten und Jahren viele Beschlüsse gefasst, um Afrika angeblich zu unterstützen und damit Fluchtursachen zu bekämpfen – von der 2012 gegründeten »Neuen Allianz für Ernährungssicherheit« der G-8-Staaten über die 2014 verabschiedeten »Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung« samt »Marshallplan mit Afrika« bis zum »Compact with Afrika« (G-20-Partnerschaft). Der Versuch, damit Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und sicherheitspolitische Maßnahmen zu verzahnen, ist gescheitert. Unter dem Eindruck solcher Szenarien wie Smith und andere sie beschreiben, wird gerade wieder der Ruf nach einem Strategiewechsel oder einer Neuausrichtung der »Entwicklungshilfe« und der Afrikapolitik laut. Man muss kein Hellseher sein, um jetzt schon sagen zu können, dass wieder keiner über Möglichkeiten eines globalen Ausgleichs nachdenken wird.

Man denke nur an die jetzt von den EU-Regierungschefs geplanten »Anlandeplattformen« und den von Kommissionspräsident Jean-­Claude Juncker präsentierten Vorschlag zur Stärkung der EU-Grenzagentur Frontex, die heute 1.500 Beamte zur Verfügung hat und bis 2020 über 10.000 Mann sowie eigene Schiffe und Flugzeuge verfügen soll. So werden keine Fluchtursachen beseitigt, ebenso wenig durch die Jagd auf Schleuser (die in der BRD bis zur Einverleibung der DDR übrigens noch Fluchthelfer genannt wurden). Dabei schreckt die EU auch nicht vor einer Kooperation mit Diktaturen wie im Sudan oder Eritrea zurück. Den Regierungen undemokratischer oder sogenannter gescheiterter Staaten wie Libyen, Ägypten, dem Sudan oder Algerien, wo die Bundeskanzlerin gerade zu Besuch weilte, viele Millionen Euro zukommen zu lassen, damit sie Menschen aus anderen Staaten stoppen, internieren und wieder zurückschicken, ist kurzsichtig und zynisch. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit der libyschen »Küstenwache«. Doch nicht nur die Inkaufnahme schwerster Menschenrechtsverletzungen ist skandalös. Nicht weniger dramatisch ist, dass die ins Auge gefassten Entwicklungsstrategien in erster Linie den Profitinteressen transnationaler Unternehmen dienen, nicht aber dem Wohl jener Länder, um die es eigentlich geht.

Die politische Linke, insbesondere die sozialdemokratischen Parteien Europas, zögern allzu oft, ihre Ideen um den Preis der Polarisierung zu verteidigen. Sie laufen Gefahr, sich in falsche Diskurse hineinziehen zu lassen und irreführende Begrifflichkeiten, wie die Rede von der »illegalen« Migration, zu übernehmen. Nur wenn wir uns nicht »für die Abfederung eines Systems einspannen lassen, das auf Ausgrenzung, Stigmatisierung, Klassifizierung von Menschen und Entsolidarisierung beruht«, so Sabine Eckart, Projektkoordinatorin von Medico international »nähern wir uns zumindest einer humaneren, gerechteren und adäquateren Sichtweise und politischen Praxis an«. Klarer kann man die Grenzen der Migrationspolitik im Rahmen des kapitalistischen Systems kaum beschreiben.

Die genannten Studien finden sich unter

jungeWelt | 24.09.2018

„Normalfall Migration“

Fußnoten

Fußnoten
1Alexander Betts/Paul Collier: Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist, München 2017
2https://weltneuvermessung.wordpress.com/2018/05/11/zur-not-europa/