Mit Massenfestnahmen und der Einführung des Straftatbestandes der »Verbreitung falscher Nachrichten« geht das algerische Regime gegen die Protestbewegung vor. Derweil droht der Staatsbankrott.
Von Bernhard Schmid, Jungle World 02.07.20

Im Frühjahr hatte die Pandemie für die Behörden in Algerien den praktischen Nebeneffekt, dass diese zu einer vorläufigen Einstellung der Massenproteste führte, die im Februar 2019 begonnen hatten und zwei Monate später den seit 20 Jahren amtierenden Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika zum Rückzug zwangen. Dessen Entourage hatte versucht, den schwerkranken und faktisch amtsunfähigen 83jährigen für eine fünfte Amtszeit kandidieren zu lassen. Noch bevor das Regime, dem seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom 12. Dezember der neue Präsident Abdelmajid Tebboune vorsteht, ein Versammlungsverbot verhängte, hatte die Protestbewegung im März ohnehin bereits auf Demonstra­tionen verzichtet.
Diese sollten am 19. Juni wieder losgehen. Zuvor kam es bereits während des Ramadan zu sporadischen, vor allem nächtlichen, nach dem Fasten­brechen beginnenden Demonstrationen, insbesondere in der Berberregion Kabylei. Zu einem offiziellen landesweiten Neubeginn rief der Hirak, wie der Massenprotest allgemein bezeichnet wird, über die sozialen Medien und mehrere privat verlegte Zeitungen des Landes auf.
Den Versuch, am 19. Juni tatsächlich auf die Straße zu gehen, unternahm man vor allem in der Kabylei; er endete jedoch nach Angaben der Algerischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (LADDH) für über 500 Menschen mit ihrer Festnahme – bislang ein Rekord bei Hirak-Protesten. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International reichte am 25. Juni deswegen eine zehnseitige Protestnote bei den algerischen Behörden ein. Tags darauf, am Freitag voriger Woche, fanden keine neuen Demonstrationen statt. Die meisten der Festgenommenen kamen inzwischen wieder frei, teilweise unter Androhung späterer Strafverfolgung, doch ein Dutzend blieb in Untersuchungshaft. […]

Verurteilt wurde am vorvergangenen Sonntag die seit langem in der Opposition engagierte prominente Gynäkologin Amira Bouraoui. Die 44jährige muss eine einjährige Haftstrafe antreten, weil sie in einem Eilverfahren in sechs Anklagepunkten für schuldig befunden wurde, darunter Präsidentenbeleidigung, Verunglimpfung der Staatsreligion Islam, »Angriff auf die nationale Einheit« und der neue Straftatbestand der »Verbreitung falscher Nachrichten«. Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt, es gilt als ernsthafte Warnung an alle Oppositionellen.
Die wirtschaftliche Situation des extrem von Rohöl- und Erdgasexporten abhängigen Staats droht sich unterdessen immer weiter zu verschlechtern, denn der Ölpreis sank in jüngerer Zeit erheblich. 2014 verfügte die öffentliche Hand in Algerien über umgerechnet 200 Milliarden US-Dollar Devisenreserven, im März dieses Jahres waren es noch über 55 Milliarden. Derzeit drohen diese Reserven vollständig aufgezehrt zu werden: Im Staatshaushalt musste der zugrunde gelegte Preis pro Barrel von 45 auf 27 Euro korrigiert werden und für das laufende Jahr wird ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um 5,2 Prozent vorausgesagt. Am Dienstag voriger Woche bildete Tebboune seine Regierung um, der Energie- und der ­Finanzminister wurden ausgetauscht. Dies allein dürfte kaum für Abhilfe sorgen.

Jungle World 02.07.20

„Pleite und aggressiv“