[Der folgende Text ist ursprünglich Anfang September 2020 in dem Schweizer Onlinemagazin Geschichte der Gegenwart erschienen. Wir danken der Autorin Helga Dickow und der Redaktion, dass sie ihr Einverständnis für die Zweitveröffentlichung auf ffm-online gegeben haben.]

Der Marschall und die Menschenrechte

Der Tschad ist ein hochkorruptes Land, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wegen seiner Bedeutung im Kampf gegen islamistische Terroristen aber wird das Regime von Präsident Idriss Déby Itno durch direkte Hilfe Frankreichs und der EU gestützt. Ist Besserung in Sicht?

HELGA DICKOW

Nicht viele Länder können sich rühmen, einen Marschall an ihrer Spitze zu haben. Der Tschad seit Kurzem schon: Präsi­dent Idriss Déby Itno wurde am 26. Juni 2020 vom Parla­ment der Ehren­titel „Maré­chal“ verliehen. Pünkt­lich zum 60. Jahrestag der Unab­hän­gig­keit von Frank­reich am 11. August ließ sich Déby dann in einer Fanta­sie­uni­form zum Marschall des Tschad ausrufen. Das Ganze sei eine „spon­tane“ Idee der Dele­gierten der Regie­rungs­partei Mouve­ment patrio­tique du salut (MPS) gewesen, verkün­dete deren Spre­cher. Déby erhalte den Ehren­titel für seine mili­tä­ri­schen Siege und seine Verdienste um die Nation.

Ange­sichts des wirt­schaft­lich und poli­tisch desas­trösen Zustands des Landes stellt sich die Frage, welche Verdienste wohl gemeint sein könnten. Der Tschad wird bei allen Indizes – von Armut über Rechts­staat­lich­keit bis hin zur poli­ti­schen Frei­heiten und Korrup­tion – auf den untersten Rängen der inter­na­tio­nalen Statistik aufge­führt. Die sozio-ökonomische Lage hatte sich bereits vor der COVID-19 Krise weiter verschlech­tert. Auf mili­tä­ri­scher Ebene erhält das Land hingegen Aner­ken­nung seitens seiner inter­na­tio­nalen Verbün­deten. So wurde in der Abschluss-Erklärung des Sahel Gipfels in Nouak­chott am 30. Juni 2020 im Format G5 + 1 – zu den G5 Staaten gehören die fünf Länder Maure­ta­nien, Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad; das Format G5 +1 schließt Frank­reich mit ein – der Erfolg der tscha­di­schen Armee gegen Boko Haram ausdrück­lich aufge­führt – insbe­son­dere die jüngste Opera­tion „Colère de Bohoma“ (Wut von Bohoma). Das hinter­lässt aller­dings mehr als nur einen bitteren Beigeschmack.

Zwei tscha­di­sche Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen, die „Conven­tion Tcha­di­enne de Défense des Droits de l’Homme“ (CTDDH) sowie die „Ligue Tcha­di­enne des Droits de l’Homme“ (LTDH), veröf­fent­lichten Berichte über gravie­rende Menschen­rechts­ver­let­zungen im Zusam­men­hang mit der Opera­tion Bohoma. Was führte zu dieser „Colère“? Nach Regie­rungs­an­gaben über­fielen Boko Haram-Kämpfer in den Morgen­stunden des 23. März auf der Insel Bohoma eine Garnison der Armee und töteten fast hundert tscha­di­sche Mili­tärs des dort statio­nierten Batail­lons. Das Entsetzen in der Haupt­stadt N’Djamena über diese mili­tä­ri­sche Schmach und die Angst vor der Rück­kehr des Terro­rismus auf tscha­di­sches Hoheits­ge­biet waren sowohl bei Regie­rungs­an­hän­gern als auch bei Oppo­si­tion und Zivil­ge­sell­schaft groß – die Erin­ne­rung an die Terror­an­schläge 2015 am Tschadsee und in der Haupt­stadt ist noch frisch.

Um die schlimmste Nieder­lage seiner 30-jährigen Amts­zeit zu rächen, zog Staats­chef Déby die Gene­rals­uni­form an und führte die Truppen unter dem Motto „Colère de Bohoma“ zum Gegen­schlag in die Region nahe der nige­ria­ni­schen Grenze. Zu diesem Zeit­punkt waren die extre­mis­ti­schen Kombat­tanten natür­lich schon längst in den Nach­bar­län­dern abge­taucht, Boko Haram unter­hält keine Stütz­punkte im Tschad. In der Region des Tschad­sees herrscht Ausnah­me­zu­stand, Beob­ach­tern ist der Zugang verwehrt. Einige offi­zi­elle Video­clips zeigten den Präsi­denten mit seinem Stab, ansonsten gab es keine Nach­richten über das Vorgehen der Armee oder über das Kampf­ge­schehen. Der Präsi­dent selbst verkün­dete nach seiner Rück­kehr aus dem Feld den trium­phalen Sieg: Über 1.000 Boko-Haram-Kämpfer seien getötet worden, keine Über­le­benden!

Gefan­gene wurden nicht gemacht?

Die Erfolgs­mel­dung wurde im In- und Ausland verbreitet und allseits begrüßt. Die wenigen Amateur­bilder in den sozialen Medien, die wahr­schein­lich Menschen­rechts­ver­let­zungen von tscha­di­schen Mili­tärs während der Straf­ak­tion an der lokalen Bevöl­ke­rung der Tschadsee-Region zeigten, fanden keine Aufmerk­sam­keit. Fragen wurden nicht gestellt. Offen­sicht­lich wollte die natio­nale und inter­na­tio­nale Öffent­lich­keit an die große Schlag­kraft der tscha­di­schen Armee und ihres Anfüh­rers glauben, der seit 2013 an der Seite der fran­zö­si­schen Armee im Norden Malis gegen isla­mis­ti­sche Extre­misten kämpft.

Am 16. April 2020 jedoch wurden plötz­lich Fragen laut: Ein Poli­zei­spre­cher verkün­dete den Selbst­mord von 44 Gefan­genen der Opera­tion Bohoma im Gefängnis in N’Djamena. Diese Nach­richt musste schon deswegen auffallen, weil bei allen vorhe­rigen offi­zi­ellen Verlaut­ba­rungen nie von Gefan­genen die Rede gewesen war. Nun hieß es, die Gefan­genen hätten kollek­tiven Selbst­mord begangen. Eine offi­zi­elle Unter­su­chung über die Todes­ur­sache wurde schnell einge­stellt, die Leichen sofort vergraben.

Wer waren diese Menschen, die so plötz­lich aus dem Nichts auftauchten? Die Berichte der CTDDH und LTDH legen unter Bezug auf lokale Quellen und nach Gesprä­chen mit Ange­hö­rigen der Opfer schlüssig dar, dass erst nach Been­di­gung der Opera­tion Bohoma – wohl mit dem Motiv, der Öffent­lich­keit im Nach­hinein ein paar Gefan­gene präsen­tieren zu können – mindes­tens siebzig tscha­di­sche Dorf­be­wohner aus der Tschadsee-Region fest­ge­nommen worden waren; die meisten fielen den Sicher­heits­kräften auf dem Weg zum Markt, von Besu­chen oder auf dem Rückweg aus dem benach­barten Niger in die Hände.
Schon auf dem Weg in die Haupt­stadt starben die ersten Gefan­genen. Sie hatten bei Tempe­ra­turen bis zu 50°C weder Getränke noch Nahrung erhalten. Nach dem Tod der 44 Gefan­genen wurden die zwölf Über­le­benden ins drei Tages­reisen entfernte Gefängnis Koro Toro gebracht. Die Todes­ur­sache der 44 Verstor­benen sei noch nicht bekannt, ein kollek­tiver Selbst­mord aber ausge­schlossen, so die CTDDH und LTDH. Die Berichte beschul­digen hoch­ran­gige Sicher­heits­kräfte und einen Gouver­neur der Region des Mordes.

Die LTDH spricht von einem Kriegs­ver­bre­chen und fordert eine inter­na­tio­nale Unter­su­chungs­kom­mis­sion und die Frei­las­sung der zwölf Über­le­benden. Der renom­mierte Regime­kri­tiker und Präsi­dent der CTDDH, Mahamat Nour Ahmet Ibedou, wurde für die Veröf­fent­li­chung des Berichts von Regie­rungs­kreisen sowie regimege­lenkten Medien heftig ange­griffen. Ibedou saß Anfang des Jahres schon einmal unter faden­schei­nigen Gründen und ohne Anklage einen Monat in Haft und wurde nun Mitte August von seinem Amt suspen­diert – allem Anschein nach auf Betreiben einge­schleuster und von der Regie­rung korrum­pierter Vereins­mit­glieder.

Eine verhee­rende Menschen­rechts­bi­lanz

Im Tschad gehören Mensch­rechts­ver­let­zungen sowie die Verfol­gung poli­ti­scher Gegner zum Alltag. Die Menschen wissen, wo die Folter­kam­mern des Regimes und seiner Sicher­heits­kräfte, in denen nahe Verwandte des Staats­prä­si­denten das Sagen haben, versteckt sind: in Villen in privi­le­gierten Wohn­vier­teln in der Haupt­stadt. Sie können einschätzen, wann es gefähr­lich ist, einer Vorla­dung der Polizei nach­zu­kommen oder even­tuell doch besser die Flucht in die Nach­bar­länder zu wagen.

Auch in den Botschaften in N’Djamena sind viele dieser Fälle bekannt, immer wieder wenden sich Oppo­si­tio­nelle und Regime­kri­tiker hilfe­su­chend an die inter­na­tio­nalen Vertre­tungen. Selten werden sie gehört. Die Präsenz der Sicher­heits­kräfte und die brutale Nieder­schla­gung von Demons­tra­tionen gehören zur Tages­ord­nung – selbst von Studie­renden, die nur die ihnen zuge­sagten Stipen­dien fordern. COVID-19 Maßnahmen liefern einen weiteren will­kom­menen Vorwand, um jedwede Versamm­lung zu unter­binden. Einzig Demons­tra­tionen von Unter­stüt­zern der Regie­rung oder der MPS können unge­stört durch­ge­führt werden. Willkür von Sicher­heits­kräften führt zu Morden auf offener Straße, wie unlängst auf einem Markt in N’Djamena, wo ein hoher Militär einen jungen Mecha­niker nach einem Streit einfach erschoss. Auch aus entfernten Regionen werden Menschen­rechts­ver­let­zungen gemeldet.

Eine verhee­rende Menschen­rechts­bi­lanz, keine poli­ti­schen Frei­heiten – aber trotz alledem halten sich Präsi­dent Déby und seine Entou­rage weit­ge­hend unan­ge­fochten seit fast drei Jahr­zehnten an der Macht. Drei Faktoren spielen hierfür eine Rolle: Die Ölpro­duk­tion des Landes seit 2003, die prekäre Sicher­heits­lage in der vom isla­mis­ti­schen Terror bedrohten Sahel­re­gion sowie die damit verbun­dene gleichsam bedin­gungs­lose Loya­lität Frank­reichs.

Vor dem Beginn der Öl-Extraktion waren Baumwoll- sowie Lebend­fleisch­ex­port die wich­tigsten Einnah­me­quellen des bitter­armen Landes. Anstatt nun Ölein­nahmen lang­fristig zu inves­tieren, fiel der Tschad wie die meisten rohstoff­rei­chen Staaten dem Ölfluch zum Opfer: Herr­schafts­ausbau anstatt nach­hal­tiger Inves­ti­tionen in den Aufbau verar­bei­tender Indus­trien während der goldenen Jahre. Erst die Ölein­nahmen, auch „Ölrenten“, boten Déby die notwen­digen finan­zi­ellen Mittel zur mili­tä­ri­schen Aufrüs­tung. Angriffen von Rebellen, auch aus den Kreisen seiner eigenen Familie, die eben­falls ihren Teil abbe­kommen wollten, konnte nun eine besser ausge­bil­dete und ausge­rüs­tete Armee entge­gen­ge­stellt werden.

Gleich­zeitig ermög­lichte der Geld­fluss den Ausbau eines ausge­klü­gelten Koopt­ati­ons­sys­tems, das auf alle Kreise der Gesell­schaft ausge­dehnt wurde. Den größten Posten nahmen die Familie und der engste Führungs­kreis um Déby für sich in Anspruch, darunter auch hohe Mili­tärs. In der Folge wurde keine gesell­schaft­liche Gruppe ausge­lassen: die poli­ti­sche Oppo­si­tion sowie alle Bereiche der Zivil­ge­sell­schaft, von tradi­tio­nellen und reli­giösen Struk­turen bis hin zu Gewerk­schaften, profes­sio­nellen Zusam­men­schlüssen oder Vereinen. Nur wenige mutige Indi­vi­duen konnten lang­fristig dem poli­ti­schen und sozialen Druck stand­halten.

Budgethilfe an ein korruptes System

Das tscha­di­sche Ölver­kommen ist bald erschöpft. Neben der krassen Korrup­tion und dem exzes­siven Klien­te­lismus stürzte der Verfall des Ölpreises auf dem Welt­markt den tscha­di­schen Haus­halt in ein tiefes Defizit. Im Nach­hinein kaum erklär­bare Fehl­ent­schei­dungen ließen das Staats­budget ausbluten, mit gera­dezu krimi­neller Energie schaffte die Macht­elite gigan­ti­sche Summen ins Ausland. Die inter­na­tio­nale Gemein­schaft unter­stützt das Land aber weiter, um den Staats­bank­rott zu verhin­dern und sich seiner mili­tä­ri­schen Stärke zu bedienen.

Seit mehr als einem Jahr­zehnt hatten sich in den Nach­bar­staaten radikal-islamistische Terro­risten fest­ge­setzt und über­zogen ganze Regionen mit Gewalt, Entfüh­rungen und Anschlägen – Boko Haram im benach­barten Nigeria, Al-Qaida im Isla­mi­schen Maghreb (AQMI) und Isla­mi­scher Staat im Sahel. Als Anfang 2013 die mali­sche Regie­rung beim Vormarsch von AQMI und Ansar Dine – einer radikal-islamistischen Grup­pie­rung in Mali – beim fran­zö­si­schen Präsi­denten um mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung bat, zeigten sich Déby und seine Mili­tärs als verläss­liche Bünd­nis­partner der ehema­ligen Kolo­ni­al­macht bei der Opera­tion „Serval“. Sie wurde 2014 von der Mission „Bark­hane“, der von Frank­reich geführten inter­na­tio­nalen Mission zur Bekämp­fung des isla­mis­ti­schen Terro­rismus, abge­löst. Seitdem betei­ligen sich tscha­di­sche Einheiten in verschie­denen inter­na­tio­nalen Frie­dens­mis­sionen in der Region.

Frank­reich nutzt N’Djamena seit der Unab­hän­gig­keit 1960 als Mili­tär­basis für die gesamte Region und kam Déby auch schon bei mehreren Rebel­len­an­griffen zu Hilfe. Seit 2014 beher­bergt die Stadt zudem das Haupt­quar­tier von „Bark­hane“. Im Jahr 2019 setzte Frank­reich gar – ohne Vorab­infor­ma­tion der fran­zö­si­schen Natio­nal­ver­samm­lung, was dort immerhin zu einer Anfrage führte – Mili­tär­flug­zeuge der Mission „Bark­hane“ gegen vorrü­ckende Rebellen ein. So ein Einsatz gehört strictu sensu nicht zum Mandat, wurde von der fran­zö­si­schen Regie­rung aber mit bila­te­ralen vertrag­li­chen Verpflich­tungen begründet, da Déby diese Hilfe erbeten hatte. Es schien nicht weiter zu stören, dass dessen eigene Luft­waffe sich offenbar gewei­gert hatte, gegen ihre „Brüder“, die das Regime bedrohten, vorzu­gehen. Auch die tscha­di­sche Oppo­si­tion protes­tierte gegen das Eingreifen Frank­reichs: Man möge doch die Tschader ihre eigenen Probleme lösen lassen.

Der fran­zö­si­sche Präsi­dent betont die Sonder­rolle Frank­reichs in der Region immer wieder. Sein Land verstehe sich als Garant der Souve­rä­nität der Part­ner­staaten. Europa nahm Emanu­elle Macron in Nouak­chott eben­falls in die Pflicht: „Wo sich Frank­reich enga­giert, da enga­giert sich Europa“. Im Tschad leisten Frank­reich und die EU aber einem korrupten System Budgethilfe. Europa (co)finanziert Wahlen, obwohl alles darauf hinweist, dass das Regime demo­kra­ti­sche Spiel­re­geln nicht einhält und Menschen­rechte verletzt. Die viel beschwo­renen Werte fallen der „Real“politik zum Opfer. Im Fall des Tschad werden nicht die Souve­rä­nität des Staates gestützt, sondern ein auto­kra­tisch herr­schender „Marschall“ und seine Entou­rage geschützt.

Geschichte der Gegenwart | 06.09.2020

Tschad: „Der Marschall und die Menschen­rechte“