Erich Rathfelder schreibt in der TAZ vom 23.09.2019 über das Wiederaufleben der Balkanroute:

Elende Zustände auf Balkanroute: Kroatien anprangern

Auf der neuen Balkanroute zeichnen sich Zustände wie in Libyen ab. Die Zahl der Flüchtlinge steigt wieder und die EU schaut angestrengt weg.

[…] Immer mehr Menschen versuchen von der Türkei aus nach Griechenland und Bulgarien zu fliehen. Und sich von dort aus auf den Weg durch Südosteuropa zu machen, um Westeuropa zu erreichen. Schon heute sind es Tausende, die sich auf diesen Weg begeben haben. Nicht nur Syrer, auch Pakistani und Afghanen.

Zwar haben Nordmazedonien und Ungarn die Grenzen ziemlich dicht gemacht, doch es gibt für findige Schlepper immer noch Löcher in dem Grenzgewirr auf dem Balkan. Und nicht alle Migranten sind mittellos. Unterbezahlte Polizisten und Behördenvertreter in diesen Staaten sind realistischerweise anfällig, wenn viel Geld im Spiel ist. Das gilt für Griechenland, Kosovo und Albanien ebenso wie für Rumänien und Serbien, Bosnien und Herzegowina und sogar für Kroatien.

Damit gerät der ohnehin fragile Staat Bosnien und Herzegowina in den Fokus der Fluchtbewegung. Schon jetzt haben sich rund 7.000 Personen allein in dem im Nordwesten des Landes gelegenen Gebiet um Bihać angesammelt. Von hier aus hoffen sie über die bewaldeten Berge in das EU-Land Kroatien und von dort aus nach Italien oder nach Mitteleuropa zu gelangen. Indem es einige mit Hilfe von Schleppern und Bestechungsgeldern schaffen, dieses Hindernis zu überwinden, ist eine Sogwirkung auch für mittellose Migranten entstanden.

In Gruppen versuchen sie über noch oftmals im letzten Krieg verminte Gebiete Kroatien zu erreichen. Kroatische Polizisten und Sicherheitskräfte sind dazu übergegangen, die Migranten unter den Augen der europäischen Öffentlichkeit mit brutalen Methoden abzuwehren. Migranten werden geschlagen, ihnen werden Geld, Schuhe und Handys abgenommen und sie werden mit Gewalt zur Grenze und auf bosnisches Territorium zurückgebracht.

Der Sicherheitsminister Bosnien und Herzegowinas beklagte kürzlich die Grenzverletzungen vonseiten der kroatischen Grenzschützer und kündigte Gegenmaßnahmen an. An der grundsätzlichen Lage hat dies nichts geändert. Kurz vor dem Winter und den jetzt schon empfindlich kalten Temperaturen ist eine humanitär unhaltbare Situation entstanden. Nicht nur in den schlecht heizbaren ehemaligen Fabrikhallen vor den Toren der Stadt, wo die meisten Migranten untergekommen sind. Im Fokus steht das auf einer Müllhalde errichteten Lager Vučjak.

Internationale Hilfsorganisationen weigern sich angesichts der Zustände sogar, dort tätig zu werden. Nur der privaten Initiative des deutschen Journalisten Dirk Planert und anderen Freiwilligen ist es zu verdanken, dass dort wenigstens Nothilfe geleistet wird. Eines steht jetzt schon fest: Die Hilfsorganisationen wollen im ganzen Land zwar neue Lager errichten. Das würde den Migranten kurzfristig über den Winter helfen. Doch weder in Brüssel noch in den Hauptstädten Europas scheint die Dringlichkeit des Problems wahrgenommen zu werden. Sie wird unter den Teppich gekehrt.

Dieses Schweigen macht misstrauisch. Soll die Migrationsproblematik ganz „pragmatisch“ auf den seit dem Krieg der 90er Jahre verarmten und fragilen Staat Bosnien und Herzegowina abgewälzt werden? Sollte sich das Szenario einer anschwellenden Migrationsbewegung über die Balkanroute bewahrheiten – woran kaum zu zweifeln ist –, würde Bosnien und Herzegowina als eine Art „europäisches Libyen“ weiter destabilisiert.

Dafür spricht, dass man sich nicht einmal dazu aufraffen kann, die gravierenden Menschenrechtsverletzungen der kroatischen Sicherheitskräfte auch nur anzusprechen. Dass Migranten geschlagen und gegen alle UN-Konventionen und gegen EU-Recht von Kroatien ins Nachbarland zurückgeschoben werden, ist ein Skandal und kann nicht gerechtfertigt werden. […]

Die NZZ vom 23.09.2019 veröffentlicht eine Reportage mit Bildern aus Bihac und dem Lager auf einer ehemaligen Müllkippe, Vucjak, 10 km außerhalb der Stadt, wo die Refugees „wie Müll abgeladen werden“.

Bihac in Bosnien ist das Nadelöhr für Tausende Migranten auf dem Weg in die EU

[…] Die Fahrt nach Vucjak führt einen Hang hinauf vorbei an kleinen Dörfern, Hecken und Wäldern bis zu einem Feld am Fusse des Pljesevica-Gebirges nahe der kroatischen Grenze. Ein Schild warnt vor Minenfeldern aus der Zeit des Bosnienkrieges 1992 bis 1995, der 100 000 Tote forderte und zwei Millionen Menschen in die Flucht trieb.

Bis vor kurzem stand hier eine Mülldeponie. Anfang Juni wurde sie dann, sozusagen über Nacht, im Auftrag der Stadt Bihac mit Schotter und Kies zugeschüttet, damit Platz für die weissen Zelte des türkischen Roten Halbmonds ist. Jetzt leben hier zwischen 400 und 800 Männer, die meisten kommen aus Pakistan, Afghanistan, Syrien oder Nordafrika. […]

(In) Velika Kladusa, der zweiten grösseren Stadt im Kanton Una Sana nördlich von Bihac und nur wenige Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt, […] lebten vor gut einem Jahr Hunderte Flüchtlinge unter schlimmen Bedingungen. […] Erst als der Winter sich ankündigte, wuchs der Druck auf die Behörden, das Lager bei Velika Kladusa zu schliessen.

Daraufhin richtete die Internationale Organisation für Migration (IOM) an den Stadträndern von Bihac mit EU-Geldern zwei Auffangzentren für 3000 Flüchtlinge ein, Borici und Bira. Schon damals sagte Amira Hadzimehmedovic, Koordinatorin bei der IOM: «Wir hinken immer einen Schritt hinterher. Niemand fühlt sich verantwortlich, alle sind überfordert. Am meisten unsere Regierung.»

Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Inzwischen sind die beiden Auffanglager überfüllt, in Vucjak verschlimmern sich die Zustände, und niemand weiss weiter. […]

Dass Lager wie Vucjak die Migranten davon abbringen, die Route über Bosnien-Herzegowina zu nehmen, dürfte sich als Irrtum erweisen. Noch immer kommen viele. Hierbleiben will kaum jemand, das Land ist arm, die Arbeitslosigkeit liegt bei über 20 Prozent. Doch ein Weiterkommen wird immer schwieriger, für viele könnte Bosnien, wie vor zwei Jahren Serbien, zur Sackgasse werden. Wer das nötige Geld für die Schleuser nicht aufbringen kann – bis 3000 Euro pro Person –, muss die Grenze auf eigene Faust überqueren. […]

Bosnien im Fokus der Fluchtbewegungen