Zarzis in Tunesien wird Brennpunkt der Migration. In der Stadt suchen fliehende Afrikaner aus Libyen den Weg nach Europa. Vor Zarzis wartet weiterhin das ägyptische Frachtschiff „Maridive 601“ mit 75 Migranten an Bord seit Wochen auf die Erlaubnis, in den südtunesischen Hafen Zarzis einzulaufen.

Der interessante Bericht von Mirco Kleiberth in der TAZ erwähnt den Hintergrund nicht: Die tunesische Regierung befürchtet, Tunesien könnte durch die Einreiseerlaubnis hinterrücks zu einer Ausschiffungsplattform gemacht werden. Die Migrant*innen wollen auch nicht nach Zarzis, sondern nach Europa. Nicht erwähnt wird auch, dass die Migration über die libysch-tunesische Grenze keine Einbahnstraße ist. Nach wie vor können Migrant*innen im Libyen deutlich mehr Geld verdienen als in Tunesien. Und für die meisten Geflüchteten, die in Tunesien gestrandet sind, verläuft der Weg nach Europa wahrscheinlich immer noch über Libyen.

Flüchtlinge in Tunesien: Mittelmeerträume und Realität

[…] Die 70.000-Einwohner-Stadt Zarzis im Südosten Tunesiens gilt als Hauptstadt der Migration. Tausende junger Männer haben sich von dort seit der Revolution 2011 auf Fischerbooten auf den Weg nach Europa gemacht.

Selbst in der Illegalität verdient man in Frankreich weit mehr als die 200 Euro Mindestlohn, die ein Kellner pro Monat in einem All-inclusive-Hotel bekommt. Die Arbeitslosigkeit unter Akademikern liegt bei über 50 Prozent.

Für diesen Sommer haben sich viele Familien Plätze auf den Booten nach Italien reserviert, denn wer mit Minderjährigen kommt, wird aus Italien nicht abgeschoben, hört der lokale Journalist Noureddine Gantri immer wieder.

In den Cafés der Stadt bestimmen zwei Themen die Gespräche: der Schmuggel von Benzin oder Zigaretten über die libysche Grenze und die Preise für die Überfahrt nach Europa.

Nicht nur die Einwohner von Zarzis hoffen auf Emigration. Laut dem Rotem Halbmond kommen jede Woche mehr als 200 Migranten über die libysche Grenze. Seit um Libyens Hauptstadt Tripolis Krieg herrscht, gilt Tunesien als sichere Alternative für die Weiterreise.

Nachts ins Niemandsland

Mehr als 100.000 Menschen sind seit Beginn der Kämpfe geflohen. Nach Angaben libyscher Aktivisten sitzen mehr als 6000 Afrikaner entlang der westlibyschen Küste wegen „illegaler Migration“ hinter Gittern, mehr als 300.000 versuchen, mit Gelegenheitsjobs ­einen Platz in den Booten nach Europa zu finanzieren. Folter und Lösegelderpressung nehmen in den von Menschenhändlern betriebenen libyschen Migrantenlagern zu.

Wenn sie nach Tunesien losziehen, werden die Migranten von Schleppern im libyschen Abukamasch abgesetzt und schlagen sich nachts an Milizen vorbei bis durch das von Schmugglern kontrollierte Niemandsland.

Tunesische Patrouillen bringen sie zu den Flüchtlingshelfern der UN: ­UNHCR und IOM betreiben in Medenine und Zarzis Auffanglager.

Die Registrierungsstelle für Flüchtlinge in Zarzis liegt am Stadtrand. In dem kahlen Flur füllen jeden Morgen fünf bis zehn Flüchtlinge Formulare aus. Sie hoffen, als Asylbewerber anerkannt zu werden und mit dem UN-Plastikausweis eine neue Identität zu erhalten.

Doch die Karte hat in Tunesien keinen Wert, der Vorschlag zu einem Asylgesetz liegt seit zwei Jahren unbearbeitet im Parlament.

Zwangsarbeit in der Goldmine

„Es ist hier zwar sicher, aber eine Zukunft habe ich in Tunesien genauso wenig wie in Libyen“, sagt Mohamed Sabre. Im Januar 2017 erreichte der Eritreer mit 20 anderen Migranten aus Eritrea und Äthiopien auf der Ladefläche eines Lastwagens von Sudan aus die südlibysche Wüstenoase Kufra.

Dort nahm eine lokale Miliz der Gruppe Geld und Pässe ab, die Migranten landeten auf Baustellen. „Auch als wir Zwangsarbeit leisten mussten, glaubte ich noch an das Versprechen des sudanesischen Schmugglers, dass wir in vier Wochen Italien erreichen würden“, berichtet Sabre.

Seinen Entführern täuschte er vor, Sudanese zu sein, damit sie ihn in Ruhe ließen. „Viele Eritreer haben Freunde oder Verwandte in Europa und damit Geld, die Gefangenen freizukaufen. Die Milizen verschicken dann per WhatsApp Foltervideos mit Lösegeldforderungen an die Familien.“

Von Schlägen durch einen aus Mali stammenden Mittelsmann der Menschenhändler zeugt eine große Narbe am Rücken Sabres. Ein halbes Jahr schuftete er in den Goldminen von Um al-Anarab.

Nun arbeitet Sabre in Zarzis als Aushilfskraft in einem Kiosk. Er will sich 250 Euro zusammensparen – der Preis für einen Platz auf einem Fischerboot nach Lampedusa.

TAZ | 20.06.2019

Bericht aus Zarzis als neuem Brennpunkt der Migration