Konflikte an der Grenze und auf einem Ölfeld in Süd-Libyen, Sozialproteste werden von mehreren Kampffronten überlagert

Die meisten Massenrückschiebungen und Kriminalisierungen von Fluchthelfer*innen finden seit einem Jahr an der italienisch-französischen Grenze statt – bisher soll es sich um eine Zahl von 60.000 Rückschiebungen handeln. Inzwischen sind auch die Arbeitspendler*innen davon betroffen, dass französische Kontrolleur*innen die grenzüberschreitenden Züge aufhalten. Die „No-TAV“-Proteste gegen die geplante Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon stellt jetzt die römische Regierungskoalition auf die Probe.

Der stille Krieg gegen Geflüchtete und Migrant*innen spitzt sich an der italienisch-französischen Grenze zu, die tatsächliche Konfrontation zwischen den beiden EU-Staaten spielt sich aber auf den libyschen Ölfeldern ab. Im libyschen Süden, im Fezzan droht ein offener Stellvertreterkrieg, der zu einer furchtbaren Blockade der transsaharischen Migration führen könnte.[1]siehe dazu auch Crisisgroup, How Libya’s Fezzan Became Europe’s New Border, FFM-Archiv Wir haben im Januar auf erste Hintergründe hingewiesen: „Italien-EU: Keine Boat-people mehr durch künftigen Krieg im libyschen Süden?

Die Auseinandersetzungen und Kämpfe im libyschen Süden, angrenzend an Niger und den Tschad, haben sich zugespitzt. Seit Dezember 2018 haben lokale Anwohner*innen das wichtige Ölfeld Sharara besetzt und lahmgelegt.[2]Die Protestbewegung, die das Sharara Ölfeld über zwei Monate besetzt hielt, hat einen Namen: Fezzan Anger Movement oder Anger Fezzan Movement oder Fezzan Rage Movement. Chronologien ihrer Kämpfe … Continue reading Sie protestieren gegen die Armuts-Sozialpolitik der reichsten libyschen Staatsgesellschaft NOC (National Oil Corporation), welche die Ölförderungen und die offiziellen Öl-Einkünfte verwaltet. Es ist die einzige Behörde Libyens, die das gesamte Staatsgebiet umfasst und an der alle politisch-militärischen Lager beteiligt sind. Das Sharara-Ölfeld kann 315.000 Barrel pro Tag fördern und sorgt damit für ein Drittel der libyschen Gesamtproduktion. Die Ausbeutung des Sharara-Ölfelds liegt bei der Gesellschaft Akakus, einem Joint-Venture der NOC, der spanischen Repsol, der französischen Total, der österreichischen Omv und der norwegischen Firma Statoil.

Events have cascaded over the last week and are ever-changing, almost on a daily basis. They continue to reflect the power struggle between western and eastern Libya, and the power and security vacuum and local power struggle in the southern region.[3]Libya Herald, Il Fatto Quotidiano

Die Situation in Fezzan ist vielschichtig: Neben der Beschwörung einer migrantischen Invasion geht es um das wichtigste Ölfeld in Libyen und um ethnische Säuberungen gegen die nomadisierenden Tubu und Tuareg. In diesem Machtvakuum bombardieren bereits Flugzeuge der Vereinigten Arabischen Emirate und kämpfen sudanesische Söldner. Die französische Luftwaffe bombardierte im Tschad.

Das Ölfeld Sharara liegt im Südwesten Libyens, also an den Transitrouten zum Niger, zum Tschad und nach Algerien. Hier stoßen die Aktionsräume unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und Milizen im Fezzan zusammen: regierungstreue Milizen im Norden, Tuareg-Milizen im Westen über die Grenze nach Algerien hinaus und Tubu-Milizen im Südosten, über die Grenzen nach Niger und Tschad.

Die dortige protestierende Bevölkerung, überwiegend Tubu und Tuareg, lebt seit eh und je vom grenzübergreifenden Handel und Schmuggel und hat verwandtschaftliche Verbindungen in den Niger, in den Tschad und in den algerischen Süden. Traditionell waren sie im internationalen Mächtespiel eher mit italienischen Interessengruppen verbündet. Offensichtlich ist es den Emissären der italienischen Innenminister Minniti und Salvini aber nicht gelungen, sie wie die westlibyschen Küstenmilizen zu ködern und aus den kommerziellen Fluchthelfern Abschottungsgendarmen zu machen.[4]SANA Dispatches, The Guardian, Libya Herald

Die westlibysche „Einheitsregierung“, von den Vereinten Nationen eingesetzt und machtlos von der Marinebasis und einem Stadtteil Tripolis‘ aus agierend, denunzierte den Sozialprotest in und um Sharara als „bewaffnet“, die Protestbevölkerung bestritt dies.

In diese soziale Kampffront haben im Laufe der letzten Woche die verschiedensten militärischen Akteure mit militärischen Attacken eingegriffen.

  1. Das ostlibysche Armeebündnis von Haftar, bestehend aus Laizisten, Salafisten, Panarabisten, Milizenfreunden des ägyptischen Es-Sisi, Mafia-Milizen und sudanesischen Söldnern ist weiter in den Süden Libyens eingedrungen, mit der Begründung, tschadische Oppositionelle aus Libyen vertreiben zu wollen. Die Angreifer haben Flughäfen besetzt, tatsächliche oder vermeintliche Ansammlungen ihrer Feinde bombardiert und eine Lufthoheit über Südlibyen ausgerufen. Am Wochenende zwangen sie ein Zivilflugzeug zur Landung. Vor wenigen Tagen hat das Armeebündnis von Haftar verkündet, es hätte das Ölfeld Sharara „befreit“. Angesichts des militärischen Aufmarsches übergaben die lokalen Protestler am Abend des 11.02.2019 die Kontrolle des Ölfelds an die Haftar-Milizen.[5]Libyan Express
  2. Die Tubu und Tuareg sehen sich von dem ostlibyschen Armeebündnis in einem drohenden „ethnic cleansing“ militärisch angegriffen und schließen sich zu neuen, möglicherweise auch transnationalen Milizenbündnissen zusammen. Gerade wird gemeldet, dass auch bewaffnete Oppositionskräfte des Niger (unter dem alten Rebellenchef Mahamat Tinaymi) im Fezzan in den letzten Tagen mitgekämpft haben. Es sieht so aus, dass auch sie den bedrängten Tubu, die sich gegen die Haftar-Milizen zur Wehr setzten, zu Hilfe kommen wollten. Sie haben sich – zurück im Niger – inzwischen ergeben. Es ist zu vermuten, dass sowohl die nigrischen wie auch die tschadischen Oppositionsmilizen zu den Tubu oder den Tuareg gehören.[6]allAfrica, aNiamey
  3. Die französische Luftwaffe hat Militärkolonnen tschadischer Oppositioneller, die aus Südlibyen kamen, mit Mirage-Kampfflugzeugen bombardiert. Die tschadische demokratische Opposition – nicht zu verwechseln mit der bewaffneten tschadischen Opposition und selbst Opfer staatlicher mörderischer Entführungen – kritisiert den französischen Militäreinsatz, mit dem Frankreich wie schon seit Jahrzehnten die tschadische Diktatur stütze. Der französische Angriff fand im Rahmen der Operation Barkhane statt, die dem Namen nach dem Antiterrorismus im Sahel dient.[7]Al Wihda, Liberation
  4. Die westlibysche „Einheitsregierung“ unter Al Sarraj, die sich auf ein Bündnis von Muslimbrüdern, Laizisten, Amazigh [Berber] und Mafia-Milizen stützt, hat nach diesen Ereignissen den Touareg-General Ali Kanna zum neuen Kommandanten der südlichen Militärzone ernannt und ein Kommando nach Sharara entsandt. Kanna gilt als erklärter Gegner von Haftar.
  5. Seit gestern ist die drohende Kriegs-Eskalation Thema regionaler und afrikanischer Staatskonferenzen. Diese haben in der Vergangenheit durch eine Milizen-Stellvertreterpolitik einen Krieg niedriger Intensität in Libyen unterstützt. Einen offenen Krieg im Süden Libyen würden sie wohl scheuen, weil er sich schnell auf die Nachbarländer ausdehnen würde.

Zur Zeit scheint es, dass die Nachbarstaaten einen großen Krieg im Fezzan vorerst eindämmen wollen. Wahrscheinlich steht zu viel auf dem Spiel. Neben der Ausweitung auf den Niger und den Tschad, allein schon wegen der beteiligten Tubu und Tuareg, würde dabei auch der französisch-italienische Konflikt weiter eskalieren, weil Macron sich auf die Seite von Sissi und Haftar geschlagen hat und Italien weiter versucht, die Tripolis-loyalen Milizen zu stärken.

Die lokale Bevölkerung hat mit dem grenzüberschreitenden Schmuggel und den Ölfeldern wichtige Mittel in der Hand, um lokalen Milizen- wie internationalen Ausbeutungsinteressen Paroli zu bieten. Aber der Krieg niedriger Intensität könnte für Migrant*innen und Transitgeflüchtete die Routen aus dem Niger an die Mittelmeerküste noch gefährlicher machen. Ein weiteres Vorrücken der Haftar-Milizen wäre allerdings noch schlimmer und könnte zu einer furchtbaren Blockade der Routen führen.

Frankreich, Italien und der Fezzan

Fußnoten

Fußnoten
1siehe dazu auch Crisisgroup, How Libya’s Fezzan Became Europe’s New Border, FFM-Archiv
2Die Protestbewegung, die das Sharara Ölfeld über zwei Monate besetzt hielt, hat einen Namen: Fezzan Anger Movement oder Anger Fezzan Movement oder Fezzan Rage Movement. Chronologien ihrer Kämpfe haben sie ins Internet gestellt. Ein Interview mit dem Koordinator der Bewegung sowie eine Liste ihrer Forderungen findet sich auf der italienisch-sprachigen Seite Speciale Libia. Lesenswert auch Gli occhi della guerra vom 18.12.2018. und sehcs Wochen später PRP Channel vom 30.01.2019.
3Libya Herald, Il Fatto Quotidiano
4SANA Dispatches, The Guardian, Libya Herald
5Libyan Express
6allAfrica, aNiamey
7Al Wihda, Liberation