Andrea Backhaus hat für Zeit Online vom 05.03.2019 ein Interview mit Mustafa Sanalla, dem Chef des libyschen staatlichen Ölkonzerns, geführt.

[…] In einem Land, in dem die Institutionen kollabiert sind und sich Politiker, Clans und Gangster gegenseitig bekämpfen, macht Sanalla etwas scheinbar Unmögliches: Der Ingenieur leitet das wohl einzige noch funktionierende staatliche Unternehmen mit Sitz in Tripolis. Er gilt als nicht korrumpierbar und neutral – eine Ausnahme in einem Land, in dem institutionalisierte Korruption weit verbreitet ist. […]

ZEIT ONLINE: Die Anfang 2016 gebildete Einheitsregierung unter Al-Sarradsch hat aber kaum noch Einfluss. Vielmehr kontrollieren diverse Milizen Provinzen, Städte und Institutionen. Kämpfen sie auch ums Öl?

Sanalla: Die Milizen kämpfen nicht direkt um das Öl oder die Infrastruktur, sondern darum, möglichst viel von den Erlösen abzubekommen. Das ist ein großes Problem für uns. Unsere Arbeit wird durch verschiedene Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen geschützt. Sie besagen, dass uns das Monopol über das Ölgeschäft zusteht. Aber nicht alle respektieren das. […]

Immer wieder werden Ölfelder und Raffinerien besetzt, meistens von den Wachmännern. Sie arbeiten für kriminelle Gangs in der Gegend, die ihnen dafür viel Geld geben und so freie Hand haben, die Ölfelder zu plündern. Wir müssen den Sicherheitsapparat dringend reformieren. […]

Es gibt die Petroleum Facilities Guards (PFG), die offiziell dem Verteidigungsministerium unterstehen. Doch sie sind in lokale Einheiten aufgesplittert, die in den verschiedenen Regionen jeweils unabhängig operieren. Die Einheiten im Osten, die unter Kontrolle von Haftar stehen, sind professionell und machen ihren Job. Aber die im Westen bereiten uns große Probleme.

Die Männer, die sie anführen, haben im Chaos nach der Revolution die Kontrolle über ihre Dörfer und die Ölfelder übernommen. Sie haben keine Ausbildung und keine Disziplin, spielen sich aber als Schutzpatronen auf. Immer wieder geben sich auch Terroristen und Kriminelle als Mitarbeiter der PFG aus. Sie besetzen ein Ölfeld und sagen: Solange NOC uns nicht bezahlt, geben wir die Produktion nicht frei. […]

ZEIT ONLINE: Sie sprechen vom organisierten Benzinschmuggel. Die Milizen, die die Raffinerie in der Küstenstadt Zawiya kontrollieren, haben jahrelang Benzin gestohlen und illegal außer Landes gebracht.

Sanalla: Der Schmuggel von Benzin und Diesel ist ein großes Problem für Libyen. Die Milizen um Zawiya kontrollieren die Depots und die Trucks, sie organisieren den illegalen Verkauf. Sie schmuggeln das Benzin über die Grenze in Nachbarländer wie Tunesien. Kürzlich hat der Staatsanwalt 103 Tarnstationen schließen lassen, also Zapfstationen, die dazu dienten, illegal geschmuggeltes Benzin zu hohen Preisen weiterzuverkaufen. Er hat sie auf eine schwarze Liste gesetzt. Wir hoffen, dass das andere Schmuggler abschrecken wird. […]

Noch vor wenigen Jahren wurden Benzin und Diesel am helllichten Tag im Hafen von Zuwara auf Boote geladen und über Malta und Italien nach Europa gebracht. Fast ein Drittel des in Libyen produzierten Benzins wurde gestohlen oder geschmuggelt, der organisierte Benzinschmuggel hat die libysche Wirtschaft mehr als 750 Millionen US-Dollar pro Jahr gekostet. In diesem Ausmaß gibt es das zwar jetzt nicht mehr, aber der Schmuggel nach Europa ist noch immer ein großes Problem. […]

Für Milizen wie die in Zawiya ist der Schmuggel die Haupteinnahmequelle. Sie verdienen damit viele Hundert Millionen Euro. Von diesem Geld können sie junge Leute für den Schmuggel rekrutieren und dafür bezahlen, dass sie ihnen noch mehr Einnahmen verschaffen. Und von diesem Geld wiederum können die Milizenführer noch mehr Waffen kaufen.

Ich fürchte, dass das nicht auf Libyen begrenzt bleibt. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht wirksame Mittel findet, die den Schmuggel dauerhaft bekämpfen, wird das auch auf andere Staaten übergreifen. Die Netzwerke der Schmuggler reichen schon jetzt bis in die Nachbarländer, der Handel blüht. Mit dem Geld, das sie damit verdienen, können sie die Region langfristig destabilisieren.

ZEIT ONLINE: Welche Folgen hat der Schmuggel für die libysche Gesellschaft?

Sanalla: Der Schmuggel schafft eine große Ungleichheit im Land. Die Milizen sind mit den Erlösen enorm reich geworden. Sie erkaufen sich Einfluss und Macht, obwohl ihnen das Wohl des Landes egal ist. Die normalen Libyer hingegen kämpfen ums Überleben, viele haben keine Arbeit und kein Einkommen. Diese Kluft ist gefährlich. Sie führt dazu, dass sich normale Libyer den Milizen anschließen, weil die ihnen hohe Löhne zahlen können. Dieses schmutzige Geld führt zu mehr Kriminalität und moralischem Verfall, es korrumpiert unsere Gesellschaft.

ZEIT ONLINE: Können Sie dem etwas entgegensetzen?

Sanalla: Wir versuchen es. Wir bieten Entwicklungsprogramme an für Menschen, die in der Nähe unserer Anlagen wohnen. Wir versorgen sie mit Solardächern und Röntgengeräten, mit Medikamenten und Trinkwasser. Wir bringen den jungen Leuten bei, wie sie Autos oder Pumpen reparieren, Fertigkeiten, mit denen sie eine Anstellung finden können. Durch diese Maßnahmen sichern wir uns den Rückhalt der Menschen gegen lokale Milizen, weil sie erkennen, dass unsere Arbeit ihnen hilft. Die totale Abhängigkeit vom Öl ist nicht gut. Ich sage den Politikern oft, sie sollen sich zusammensetzen und Perspektiven für die Libyer entwickeln, sie sollen Arbeitsplätze schaffen und den Libyern auch andere Einnahmequellen ermöglichen.

Es würde helfen, wenn der Staat die Subventionen für Benzin aufheben würde. Die Regierung muss das Benzin zu normalen Marktpreisen verkaufen, so wie es in Marokko, Tunesien oder Jordanien gemacht wird. Das Geld, das man durch die Subventionen einspart, könnte man an die Menschen verteilen, das sind mehrere Milliarden US-Dollar. Das könnte für mehr Gerechtigkeit sorgen.

ZEIT ONLINE: Gibt es eine Verbindung zwischen dem Benzin- und Menschenschmuggel?

Die Leute, die Benzin schmuggeln, arbeiten oft mit den Menschenschmugglern zusammen. Manche Milizen machen auch beides gleichzeitig. […] Offenbar kaufen die Schmuggler die Fischerboote auf, um damit Menschen und Benzin nach Europa zu schmuggeln. Diese Gangs wollen Geld. Ob sie dafür Benzin oder Menschen schmuggeln, ist ihnen egal. […]

Inzwischen hat die NOC bekanntgegeben, dass sie und ein internationales Konsortium, dem Repsol, OMV, Total und Equinor angehören, 20 Mio US-Dollar bereitgestellt haben, um damit eine Reihe regionaler Projekte im Südwesten Libyens zu unterstützen. Damit konnten die Besetzer des Shahara-Ölfelds einen Teilerfolg für sich verbuchen.

NOC and partners commit US$ 20 to municipalities adjacent to Akakus oil sites in Southern and Western Libya

Libya’s National Oil Corporation (NOC) reported yesterday that it and a group of international partners made up of Repsol, OMV, Total, and Equinor, known as the ’Repsol Consortium’, have signed a US$ 20-million agreement to support a series of sustainable development projects essential for residents adjacent to sites operated by NOC subsidiary Akakus.

The US$ 20-million fund agreement signed at NOC’s Tripoli headquarters on March 4, 2019, will support projects in Ubari, Sebha, Zintan, Jado, Al Riyayna, Yefren, Al Rujban and Zawia over the next two years. […]

The NOC says the agreement demonstrates a joint commitment to raising living standards and support for all regions and communities nearby oil and gas operations.

Examples of projects to be implemented include:

• Potable water infrastructure in El Wadi and Al Jabal municipalities – including drilling of wells, installation and maintenance of new and existing water reservoirs, and the delivery of well pumps;

• Support for the Zawia Diabetes Treatment Centre;

• A cultural institution, capacity building centre, and training institute in Ubari;

• Youth assistance programmes, including maintenance of the Al Wafa club in Ubari;

• NOC-led training programmes for young entrepreneurs focused on teaching young professionals how to maintain various engineering equipment.

Libya Herald | 07.03.2019

„Ob sie Benzin oder Menschen schmuggeln, ist ihnen egal“