Ende Oktober verbreitete sich die Meldung, dass das Rote Kreuz die Versorgung im Lager Bihac kurzfristig einstellen würde. Das hat sich nicht bewahrheitet.

Andrea Jeska beschreibt im Freitag, Ausgabe 47/2019, die aktuelle Situation im Lager:

Diese Worte fielen in eine Zeit, da die Zukunft der Flüchtlinge im Kanton Una-Sana so unsicher schien, dass es die Menschen in Verzweiflung stürzte. Auch die von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) betriebenen Lager Miral in der Nähe der Stadt Velika sowie Bira in Bihać standen Anfang November kurz davor, geschlossen zu werden. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Bihać 2.000, in Mira 800 Flüchtlinge. Zusammen mit denen aus Vučjak und Hunderten, die in Ruinen oder Parks ausharren, wären dann schätzungsweise 4.000 Menschen dem hereinbrechenden Winter ausgeliefert gewesen.

Vučjak wurde 2018 gegen internationalen Protest auf einer Mülldeponie am Rande des gleichnamigen Dorfes errichtet, 15 Kilometer von Bihać entfernt. Die Stadt begründete die Entscheidung seinerzeit damit, dass sich die 40.000 Bewohner nicht mehr sicher fühlten angesichts der zumeist jungen Männer, die auf der Straße und in Parks schliefen, sich wuschen – die Müll und Fäkalien hinterließen. Daher sei die einstige Mülldeponie der allein mögliche Standort. Seither werden Migranten, die sich auf den Straßen von Bihać aufhalten, von der Polizei eingesammelt, nach Vučjak gebracht und dort zwischen flatternden Zelten und einem Waldgürtel ausgesetzt, in dem noch Landminen aus der Zeit des Bosnien-Krieges liegen.

Wegen dieser Sprengkörper wie des mit Methan verseuchten Bodens weigerten sich internationale Hilfsorganisationen, in Vučjak tätig zu werden. Das hat zu Umständen geführt, die man nur als Albtraum bezeichnen kann. Die übervollen Zelte sind im Moment feucht vom Regen und riechen nach Schimmel. Überall sammelt sich Unrat, die Wege sind schlammig. Die Wassertanks werden von der Stadtregierung befüllt, die auch den Müll abholt, es gibt einen Generator zum Aufladen der Mobiltelefone, dazu vier Dusch- und Toilettencontainer, die so verdreckt sind, dass die Bewohner lieber in den Wald gehen. Fast jeder dort – die meisten in Vučjak sind aus Pakistan und Afghanistan – hat Krätze, Flöhe oder eitrige Wunden.
Lediglich das Rote Kreuz von Una-Sana hat bis zuletzt geholfen, mit zwei Mahlzeiten täglich und der Ausgabe von Decken und Schlafsäcken sowie medizinischer Erstversorgung. „Aus Menschlichkeit“, wie Regionalkoordinator Selam Midžić sagt. Doch die Möglichkeiten waren von Anfang an beschränkt, stützten sich auf Spenden der Bevölkerung und die Arbeit von Ehrenamtlichen. Die Entscheidung, Vučjak eventuell aufzugeben, sei auch deshalb herangereift, weil seine Mitarbeiter am Ende ihrer Kräfte waren, so Midžić. „Sie haben es dort mit Hunderten von jungen Männern zu tun, die zum Teil schwer traumatisiert sind. Täglich gibt es Kämpfe und Streit, aber keine Polizeipräsenz, um unsere Leute zu beschützen.“

Dass die bosnische Regierung trotz internationalen Drucks bislang keine alternativen Standorte bestimmt hat, liegt an der Angst, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die Wählerstimmen kosten, aber auch an der föderalistischen Struktur. „Keiner übernimmt Verantwortung. Jeder fühlt sich zunächst seiner Partei oder seinem Clan verpflichtet. Probleme werden nicht gelöst, sondern von einem zum anderen weitergegeben“, meint Peter Van der Auweraert, Koordinator der IOM in Bosnien. „Wir verhandeln seit Januar, weil absehbar war, jetzt überfordert zu sein.“ Es sei jedoch nicht gelungen, alle involvierten Parteien zu einer gemeinsamen Strategie zu bewegen. „Uns läuft die Zeit davon, das ist allen klar. Wir hoffen, dass unsere Camps über den gesamten Winter hinweg geöffnet bleiben. Für jede andere Lösung ist es zu spät. Einen Plan B, das muss man klar sagen, haben wir nicht.“ Die Entscheidung des Roten Kreuzes, die Versorgung für Vučjak zu verlängern, beruhigt ihn. „Wären dessen Teams dort gar nicht tätig, dann wären diese Camps ohne Zelte, ohne Wasser und Verpflegung, also bald kollabiert. Und man hätte sich dem stellen müssen. Wenn man sich darauf einlässt, Flüchtlingen ein Refugium zu geben, muss man durchhalten.“
Laut Schätzungen des bosnischen Roten Kreuzes sind in den vergangenen Monaten rund 2.500 junge Männer ins Camp Vučjak gebracht worden. Dahinter beginnt die dicht bewaldete Plješevica-Gebirgskette, die Bosnien von Kroatien trennt. Weil in diesen Wäldern die Polizeipräsenz groß ist, nehmen viele Flüchtlinge die Route, die auf einer Karte im Camp als von Landminen verseuchte Strecke eingezeichnet ist. „Wenn du verzweifelt bist, gehst du jedes Risiko ein“, sagt Hussein. Er ist seit August in Vučjak und hat seither ein Dutzend Mal versucht, von dort zu entkommen. „Viermal haben sie mich hinter der Grenze erwischt. Die kroatische Polizei nimmt uns die Kleidung weg, ebenso Schuhe und Schlafsäcke, die vor unseren Augen verbrannt werden. Dann müssen wir barfuß zurück.

Kenno Verseck kommentiert die Situation auf Spiegel Online:

In diesem Jahr sind nach offiziellen bosnischen Schätzungen bereits mehr als 30.000 Flüchtlinge ins Land gekommen, aktuell sollen sich etwa 8000 auf bosnischem Territorium aufhalten. Sie stranden dort, weil Kroatien gegen Migranten äußerst rigide vorgeht und viele Flüchtlinge offenbar illegal über die Grenze zurückschiebt. Dabei soll es nach Aussagen der Aktivistengruppe Border Violence Monitoring Network (BVMN auch zu systematischen Schusswaffeneinsätzen durch kroatische Sicherheitskräfte kommen.

In Bosnien sind die Behörden mit der hohen Zahl von Flüchtlingen seit Monaten völlig überfordert, und wegen Kompetenzgerangels zwischen Lokalverwaltungen und Zentralregierung sind sie unfähig, die Migranten unter einigermaßen erträglichen Bedingungen unterzubringen. Derzeit campieren Gruppen Hunderter Flüchtlinge unter anderem in Sarajevo und in der nordostbosnischen Stadt Tuzla. Besonders dramatisch jedoch ist die Lage nahe der Stadt Bihac im nordwestbosnischen Kanton Una-Sana, wo Tausende Flüchtlinge auf eine Gelegenheit warten, illegal über die Grenze nach Kroatien zu kommen.

Die schlimmsten Zustände herrschen im improvisierten Zeltlager Vucjak, das sich auf einer ehemaligen Müllhalde nahe Bihac befindet. Dort harren seit Juli Hunderte ohne Strom und hygienische Einrichtungen in überfüllten Zelten aus. Sie werden nur vom Roten Kreuz und privaten Aktivisten mit Lebensmitteln versorgt. Der bosnische Staat verweigert ihnen jede Hilfe.

Vergangene Woche verhängte die Regionalregierung des Kantons Una-Sana eine Ausgangssperre über Vucjak und ein weiteres Lager nahe Bihac, weil es in der Region offenbar zu immer mehr Straftaten durch Flüchtlinge kommt und wütende Anwohner bereits gegen die Migranten demonstrierten. Nach Darstellung bosnischer Medien begehen Flüchtlinge vor allem Einbrüche in Häuser sowie Lebensmittel- und Autodiebstähle. Planert (ein Journalist, der eigentätig Hilfen für das Lager organisiert hat) sagt, teilweise hätten in den vergangenen Monaten auf den Straßen von Bihac „chaotische Zustände“ geherrscht, immer wieder hätten sich Flüchtlinge untereinander geprügelt, der Ärger der Bewohner im Ort sei verständlich.

Eskaliert ist die Lage einerseits wegen der harten kroatischen Politik an der Grenze, andererseits aber auch, weil die EU Bosnien-Herzegowina bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems bisher praktisch alleingelassen hat. Kroatische Bürgerrechtler schätzen, dass im vergangenen Jahr rund 10.000 Flüchtlinge illegal nach Bosnien zurückgeschoben wurden, wobei kroatische Polizisten offenbar auch die Landesgrenze überschreiten.

Flüchtlingslager in Bosnien