Migrationsabwehr oder Menschenrechte? In Rom kamen libysche Küstenwache, EU-Marine und die zivile Seenotrettung zusammen

Als der Offizier auf dem Podium die Konferenzteilnehmer bittet, sich vor dem Palazzo Guidini zum „Familienfoto“ aufzustellen, lachen einige der 200 Gäste im Publikum gequält. Die Marineoffiziere neben die Menschenrechtsaktivisten. Die UN-Vertreter neben die der libyschen Küstenwache. Da stehen sie vor dem Hauptquartier der italienischen Verteidigungskräfte in Rom, all jene, die das Geschehen auf dem Mittelmeer zwar in der Hand, aber nicht das Sagen haben.

Sie alle hat die EU-Mittelmeermission „Sophia“ zum Forum „Shade Awareness and Deconflicition in the Mediterranean“ nach Italien eingeladen. Das Ziel des Treffens: die operationellen Akteure auf dem Mittelmeer an einem Tisch zu versammeln und fern der Politik Wissen auszutauschen, um den Grenzschutz und die Verfolgung krimineller Netzwerke auf dem Mittelmeer zu optimieren. In Wahrheit geht es vor allem um eines: wie sich Migration aus Nordafrika nach Europa am menschenfreundlichsten aufhalten lässt. […]

Die libysche Küstenwache ist zum wichtigsten Exekutivorgan der EU-Politik auf dem Mittelmeer aufgestiegen, nachdem der EU-Mission Sophia auf Druck des ehemaligen italienischen Innenministers Matteo Salvini im März 2019 die Einsatzschiffe aus dem Mandat gestrichen worden waren – es bleiben nur mehr sechs Flugzeuge und ein Helikopter. Die Sea-Watch 3 wird, wie viele andere zivile Rettungsboote, in einem italienischen Hafen festgehalten. […]

Kein sicherer Hafen

500 Libyer hat die EU-Marine bislang zu Küstenwächtern ausgebildet. 37.000 Menschen hätten diese seit 2017 das Leben gerettet. Was Credendino nicht sagt: In der Zwischenzeit ist die Todesrate auf dem Mittelmeer stark gestiegen. Kam 2017 auf 42 Ankommende in Italien ein Toter im Mittelmeer, waren es 2018 einer auf 18 und 2019 bis Anfang September einer auf acht.

Die libysche Küstenwache steht dabei für den Umschwung der EU-Politik von pro-aktiver Seenotrettung hin zu Migrationsabwehr. Denn gegenüber der zivilen Seenotrettung und EU-Schiffen hat diese – aus EU-Abschottungsperspektive betrachtet – den Vorteil, dass sie die Geretteten zurück nach Nordafrika bringt, nicht etwa nach Italien oder Malta. Ein Vorgehen, das höchst umstritten ist. […]

Das Vorgehen der libyschen Küstenwache und der Europäischen Union steht international massiv in der Kritik. „Libyen kann kein sicherer Hafen für die Rückführung von Flüchtlingen sein“, sagt Jean-Paul Cavalieri, Einsatzleiter des UNHCR in Libyen. „Die Bedingungen in den Lagern sind schrecklich und das Land befindet sich in einem bewaffneten Konflikt.“

Das hindert das UNHCR und deren Schwesterorganisation IOM nicht daran, an den Rückführungspunkten mit der libyschen Küstenwache zusammenzuarbeiten, um die Deportierten zu registrieren und medizinisch minimal zu versorgen. Beide helfen bei der Ausbildung der libyschen Küstenwächter mit und führen Menschenrechtstrainings mit den Marineoffizieren durch. […]

Jetzt, da Salvini weg ist

Wenn sich die Teilnehmer in Rom auf einen Minimalkonsens einigen können, dann vielleicht darauf: Niemand wird Migration aus Libyen stoppen können, solange nicht Frieden in dem Land herrscht. Doch von Frieden ist Libyen weiter entfernt denn je, seit General Haftar Anfang April mit seinen Truppen Tripoli attackierte.

„Der Krieg wird dreckiger, wir sehen mehr Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des internationalen humanitären Rechts“, sagt die stellvertretende Leiterin der UN-Mission in Libyen, Stephanie T. Williams. Jede Hoffnung auf Frieden sei illusorisch, solange die Verbündeten beider Kriegsparteien das von den UN verhängte Waffenembargo brechen und das Land mit „hoch entwickeltem Militärgerät“ überschwemmen.

Die EU hat inzwischen ihre ganz eigene Doppeltaktik entwickelt, um dafür zu sorgen, dass Menschen den afrikanischen Kontinent nicht gen Europa verlassen. Zum einen stärkt sie die Südgrenze zwischen Libyen und Niger, damit keine Menschen nach Libyen hineinkönnen. Zum anderen arbeitet sie am Ausbau der libyschen Küstenwache, damit keine Menschen Libyen über das Mittelmeer verlassen können. Wenn man die Vertreter auf dem Forum in Rom nach Lösungsvorschlägen, die über Symptombekämpfung hinausgehen, fragt, wirken sie ratlos. Ihre Forderungen klingen wie immer gleiche Hilfeschreie, die von EU-Politikern in den vergangenen Jahren konsequent ignoriert wurden. […]

der Freitag | Ausgabe 40/2019

 

„Libysch Roulette“