Malta soll die libysche Küstenwache angewiesen haben, 50 Migranten nach Libyen zu bringen, obwohl diese sich bereits in einer europäischen Rettungszone befanden. Juristen sprechen von einem Rechtsbruch.

Von Steffen Lüdke

Wenn Migranten aus libyschen Foltergefängnissen Richtung Europa fliehen, ist den meisten eines klar: Sie müssen es weit hinaus aufs Mittelmeer schaffen, aus der libyschen Such- und Rettungszone (SAR) heraus, die sich viele Meilen ins Meer erstreckt. Findet die libysche Küstenwache sie vorher, werden sie zurückgebracht in das Bürgerkriegsland, dem sie entfliehen wollten.

Wenn die Flüchtenden es dagegen weiter schaffen, bis in die maltesische SAR-Zone, ist die maltesische Rettungsleitstelle zuständig, und die darf niemanden zurück in den Bürgerkrieg schicken. Die Migranten gelangen also meist nach Europa, jedenfalls wenn sie gerettet werden.

Die Flüchtlingshilfsorganisation Alarmphone aber macht den maltesischen Behörden nun schwere Vorwürfe. Nach der Darstellung der Aktivisten hat die maltesische Rettungsleitstelle am 18. Oktober die Rettung eines Bootes gezielt verzögert und 50 Migranten von einem Patrouillenboot der libyschen Küstenwache zurück nach Libyen bringen lassen – obwohl sich das Flüchtlingsboot klar innerhalb der maltesischen SAR-Zone befunden habe.

Bewahrheiten sich die Anschuldigungen, wäre das ein neuer Tiefpunkt der ohnehin brutalen europäischen Migrationspolitik im zentralen Mittelmeer. Die EU steht schon lange in der Kritik, weil sie die libysche Küstenwache ausbildet und finanziell unterstützt, um Flüchtlinge nach Libyen zurückzubringen. In den Haftlagern werden sie oft gefoltert, erpresst, vergewaltigt oder getötet.

Dass die Rückführung nach Libyen nun offenbar auch unter direkter Mithilfe von Europäern innerhalb europäischer SAR-Zonen geschah, wäre eine neue Dimension. Zwei vom SPIEGEL befragte Experten für Völker- und Seerecht, Omer Shatz, Dozent an der Pariser Hochschule Sciences Po, und Alexander Proelß, Professor an der Universität Hamburg, erkennen in solch einem Vorgehen einen klaren Rechtsbruch. Das maltesische Innenministerium antwortete bis zum Mittwochnachmittag nicht auf eine SPIEGEL-Anfrage zu den Vorwürfen.

Der Sonderbeauftragte für das zentrale Mittelmeer des Uno-Flüchtlingsnetzwerks UNHCR äußerte auf Twitter seine „Besorgnis“. […]

Die Anschuldigungen von Alarmphone sind gut dokumentiert. Der Mitschnitt eines Telefonanrufs bei der Rettungsleitstelle in Malta, der dem SPIEGEL vorliegt, stützt die Version der Aktivisten. […]

Der Organisation zufolge alarmierte ein Aktivist des Alarmphone die maltesische Rettungsleitstelle am 18. Oktober erstmals um 14.40 Uhr und teilte mit, dass ein Boot mit 50 Menschen an Bord, darunter zehn Frauen und fünf Kinder, innerhalb der maltesischen SAR-Zone in Seenot geraten sei.

„Wir werden uns um alles kümmern“, versprach ein diensthabender Beamter den Aktivisten laut Alarmphone-Protokoll. Im Anschluss hielten die Aktivisten nach eigenen Angaben den Kontakt zu den Migranten auf dem Boot, erhielten immer wieder aktualisierte GPS-Koordinaten. Diese hätten die Aktivisten an die maltesische Rettungsleitstelle weitergegeben, die habe aber nicht mehr geantwortet.

Um 19 Uhr hätten die Migranten gemeldet, dass Wasser ins Boot laufe. Erst um 21.30 Uhr, knapp sieben Stunden nach der ersten Alarmierung, hatten die Aktivisten wieder Kontakt mit der Rettungsleitstelle.

In dem Telefongespräch gibt der diensthabende Beamte zu, dass die Migranten von einem Patrouillenboot der libyschen Küstenwache, der PV „Fezzan“, aufgenommen worden seien. […]

So ist es auf der Aufnahme zu hören. „Sir, ich habe eine Bestätigung, dass dieser Fall von der libyschen Küstenwache gerettet wurde. Das Boot trägt den Namen PV, platform vessel, ‚Fezzan‘.“ Die Libyer hätten den Fall bereits zuvor, außerhalb der maltesischen Rettungszone, angenommen. Der diensthabende Offizier nennt zudem selbst die letzten GPS-Koordinaten des Bootes: „34°47N 012°37E“.

Die Koordinaten befinden sich deutlich innerhalb der maltesischen SAR-Zone. In ihr muss Malta zwar nicht zwingend selbst retten, ist aber für die Koordination der Rettung verantwortlich. Ganz offensichtlich wurden die Migranten von der libyschen Küstenwache in Tripolis abgesetzt und von dort in ein Flüchtlingsgefängnis gebracht.

So ist es auf einem Twitteraccount zu lesen, der häufig die Aktionen der libyschen Küstenwache dokumentiert. Aktivisten erkannten das Boot auf dem Twitter-Foto wieder. Ein Verwandter erkannte zudem seinen Bruder im Twitter-Video wieder und setzte das Alarmphone davon in Kenntnis.

Maurice Stierl ist einer der Aktivisten von Alarmphone. Er macht den maltesischen Behörden schwere Vorwürfe. „Wir haben so etwas noch nie erlebt. Der Fall markiert eine neue Dimension der europäischen Abschottungspolitik“, sagt er. „Europa lässt Menschen nicht nur vor Libyen ertrinken, sondern auch aus ihren eigenen Rettungszonen entführen und in ein Kriegsland zurückbringen, wo sie unmenschliche Gräuel erfahren.“

Spiegel Online | 23.10.2019

Spiegel: „Rückführung nach Libyen – schwere Vorwürfe gegen Malta“