Die Migranten im Boot konnten das Leck notdürftig flicken und erreichten Fuerteventura. Damit gehört Abdul Kamara zu rund 5000 afrikanischen Migranten, die seit Anfang des Jahres auf den Kanaren angekommen sind – ein Anstieg um mehr als 600 Prozent im Vergleich zu 2019. Bereits früher wurde die Migrationsroute zwischen Afrika und der spanischen Inselgruppe rege genutzt. Mitte der 2000er Jahre kamen Zehntausende Migranten auf den Inseln an. Seitdem wagten jedoch nur noch wenige Boote die Überfahrt – nicht zuletzt, weil die Route als gefährlichste Überfahrt der Welt gilt: Laut Hilfsorganisationen stirbt hier einer von 16 Migranten.

Noch rätseln viele Beobachter, warum sie wieder so oft genutzt wird. Bram Frouws vom Mixed Migration Center, einem unabhängigen Forschungsinstitut in Genf, verweist auf die weltweiten Auswirkungen der Corona-Pandemie. „Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie steigert für viele Menschen den Wunsch und sicherlich auch die Notwendigkeit zu migrieren. Gleichzeitig nimmt sie ihnen viele der Möglichkeiten dazu“, so Frouws zur DW. Zum einen hätten die Menschen weniger Geld für die Reise, zum anderen sei die Bewegungsfreiheit überall eingeschränkt. Nicht nur, weil viele Grenzen geschlossen sind: Man sehe momentan, dass auf vielen klassischen Routen schlichtweg weniger Schleuser zur Verfügung stünden, erklärt Frouws.

Spanien: Opfer des eigenen Erfolgs
Doch die Gründe, warum sich die Migrationsrouten aktuell verschieben, hat nicht nur mit der Coronakrise zu tun. In den vergangenen Jahren haben europäische Staaten diverse Vereinbarungen mit Transitländern wie Niger und Libyen geschlossen, die stets nach dem gleichen Muster funktionieren: Afrikanische Staaten tun mehr, um durchreisende Migranten aufzuhalten, lange bevor sie die nordafrikanische Küste erreichen. Im Gegenzug überweist Europa stattliche Summen an diese Länder und erhöht sein entwicklungspolitisches Engagement.
Oft sorgen solche Deals aber nur dafür, dass sich die Migrationsrouten ändern. Im Fall der Kanarischen Inseln ist nicht unwahrscheinlich, dass Spanien Opfer der eigenen Migrations-Diplomatie wurde. „Als die Migrationszahlen zwischen Marokko und dem spanischen Festland deutlich stiegen, hat Spanien quasi eine Woche später 30 Millionen Euro nach Marokko überwiesen. Sie nennen das dann Migrations-Zusammenarbeit“, so Experte Frouws.

Marokko hielt sich an seinen Teil der Abmachung und vertrieb Migranten aus Gebieten in Küstennähe. Die Ankünfte auf dem spanischen Festland gingen im ersten Halbjahr 2020 um mehr als 4000 zurück. Die Folge: Die Migranten versuchen nun bereits im Süden Marokkos, auf dem Gebiet der von Marokko besetzten Westsahara und sogar noch weiter südlich in Boote zu steigen und auf die Kanarischen Inseln statt aufs Festland zu gelangen.

Vorläufer einer neuen Migrationsdynamik
Für Frouws Kollegen Matt Herbert von der Nichtregierungsorganisation Global Initiative Against Transnational Organized Crime steht fest: Was wir momentan sehen, sind die Vorboten massiver neuer Migrationsbewegungen in Richtung Europa. Zwar hätten viele Länder im Sahel am Anfang der Coronakrise wirksame Mobilitätseinschränkungen durchsetzen können. Bereits in der Vergangenheit habe man jedoch gesehen, dass die schwachen Institutionen dieser Staaten strikte Maßnahmen nur für eine begrenzte Zeit durchsetzen könnten.
„Der politische Preis ist einfach sehr hoch und die Maßnahmen lassen sich nicht ewig weiterführen“, so Herbert zur DW. Daher könne man davon ausgehen, dass viele Migranten, die momentan in Transitländern feststeckten, ihre Reise in naher Zukunft fortsetzen werden. Hinzu kommt, dass aufgrund der zahlreichen politischen Krisen im Sahel immer mehr Menschen aus der Region selbst in Richtung Norden aufbrechen.

DW 07.10.20

Wiederbelebung der Kanaren-Route