Ohne Rücksicht auf die Lebensbedingungen der ortsansässigen Bevölkerung fördert die EU die Grenzsicherung an der tunesischen Grenze zu Libyen und Algerien, um die grenzüberschreitende Migration einzudämmen. Damit trifft sie vor allem die informelle Ökonomie, die ein wesentlicher Bestandteil der Existenzsicherung ist. Ein ähnliches Projekt aus dem Jahr 2007 zum Schutz der libanesisch-syrischen Grenze hatte vor allem die Bewohner der Region getroffen, war sonst aber schon nach kurzer Zeit im Sand verlaufen.

Seit einigen Jahren unterstützt vor allem Deutschland Tunesien bei seiner Grenzsicherung. Doch der Nutzen der Massnahmen der sogenannten Ertüchtigungsinitiative und ihre Auswirkungen für die Bevölkerung sind umstritten.

[…] Von Ras Jedir, dem Grenzübergang zu Libyen an der tunesischen Südostküste, zieht sich dieses Hindernissystem über 180 Kilometer durch das Niemandsland bis zum nächsten tunesisch-libyschen Grenzübergang in Dhehiba. Es soll verhindern, dass sich Schmuggler, Terroristen oder einfache Bewohner des Grenzgebietes zwischen den beiden Ländern hin- und herbewegen. Chandoul kennt die Gegend rund um seine Heimatstadt Ben Guerdane an der libyschen Grenze wie seine eigene Westentasche. Er ist Polizist, doch ein grosser Teil seiner Familie lebt vom Schmuggel. In Ben Guerdane ist das kein Widerspruch, sondern Alltag. Hier werden vor allem subventionierte Lebensmittel ins Nachbarland Libyen geschafft. Im Gegenzug landen chinesische Elektronik, Autoreifen und Benzin in Tunesien. Die Sicherheitskräfte und Zöllner sind Mitwisser, das System ist seit Jahrzehnten eingespielt. […]

«Der tunesische Staat hat zu diesem informellen Regime keine Alternative», meint Max Gallien, der an der London School of Economics zur politischen Ökonomie des informellen Handels im Maghreb promoviert. Der Schmuggel garantiere den Bewohnern der strukturschwachen, vom Staat vernachlässigten Grenzregionen ein Auskommen und schütze die Machthaber vor sozialen Revolten. Der informelle Sektor sorgt in Tunesien für rund die Hälfte der Wirtschaftsleistung. Seit 2014 wurde jährlich Benzin im Wert von knapp 120 Millionen Franken von Libyen nach Tunesien geschmuggelt.

Doch in den letzten Jahren ist dieses System ins Wanken geraten. Zum einen überquerten seit der tunesischen Revolution und dem libyschen Bürgerkrieg vermehrt auch Waffen und Terroristen die Grenze. Zum anderen machen Grenzwall und Graben den Schmuggel teurer. Ausserdem baut Tunesien seit 2017, finanziert von den USA und Deutschland, eine elektronische High-Tech-Grenze auf. Im Rahmen der sogenannten Ertüchtigungsinitiative der deutschen Regierung hat das Verteidigungsministerium in Berlin Radar- und Nachtsichtgeräte für Tunesiens Grenzüberwachung geliefert. Kostenpunkt: 16 Millionen Euro. Eine weitere Massnahme, die Grenzübertritte endgültig verhindern soll, ist ein stationäres elektronisches Überwachungssystem entlang des Grenzwalls, das von der amerikanischen Regierung errichtet wurde. Sein erster Abschnitt reicht vom Grenzübergang nahe Ben Guerdane bis zum Übergang in Dhehiba. Die Verlängerung über die restlichen 400 Kilometer bis nach Borj el-Khadra am äussersten Südzipfel des Landes soll bis Anfang 2020 installiert sein. Es wird von Deutschland finanziert. […]

Von den Deutschen «ertüchtigt» wird nicht nur das tunesische Militär an der libyschen Grenze, sondern auch die tunesische Nationalgarde, die für die Überwachung der Grenze zu Algerien zuständig ist. Auch hier geht es vordergründig darum, den Schmuggel zu unterbinden. Seit Herbst 2015 kooperiert Tunesien dabei mit Deutschland. Bis zum Ende des Projekts 2020 wird Berlin dafür über 23 Millionen Euro ausgeben. Finanziert werden damit die Ausstattung für die Einheiten und die Grenzposten in der Region Jendouba im Nordosten des Landes. Ausserdem führt die deutsche Bundespolizei Trainings für tunesische Grenzschützer durch. Ähnlich wie das Grenzgebiet zu Libyen kämpft auch diese Region mit strukturellen Problemen. Die Landwirtschaft ist der wichtigste Wirtschaftsfaktor, andere Beschäftigungsmöglichkeiten gibt es kaum – ausser dem Schmuggel über Berge und Flussläufe, die den mit blossem Auge kaum sichtbaren Grenzverlauf markieren. Keine 200 Kilometer weiter südlich, im Chaambi-Gebirge nahe der Stadt Kasserine, kämpfen tunesische Sicherheitskräfte seit Jahren gegen terroristische Gruppierungen. […]

Weite Teile der Bevölkerung in den tunesischen Grenzregionen teilen die Begeisterung ihrer Regierung über die Eindämmung des Schmuggels nicht. Dadurch werden die Produkte teurer, viele Schmuggler verlieren ihre Lebensgrundlage. In den strukturschwachen Gebieten ist der Grenzverkehr neben dem Staatsdienst oft die einzige mögliche Einkommensquelle. Seit Jahren wird über eine Freihandelszone an der libyschen Grenze gesprochen. Im März 2019 wurde nun immerhin der Grundstein gelegt.

Weil es an Arbeit und damit an einer Zukunftsperspektive fehlt, ist die Zahl der Migranten aus Tunesien in den letzten Jahren stark angestiegen. Für viele, denen nach und nach die Lebensgrundlage entzogen wird, ist der Weg übers Mittelmeer der einzig erkennbare Ausweg aus der Wirtschaftskrise. Andere suchen ihr Seelenheil bei radikalislamistischen Bewegungen. Für Chandoul ist das eine logische Folge der seit Jahrzehnten andauernden Marginalisierung der Grenzregionen. «Wenn die Menschen nichts mehr zu essen haben und ihnen dann jemand Geld und eine Aufgabe bietet, dann lassen sie sich leichter vom Terrorismus verführen.» […]

NZZ | 14.03.2018

 

 

„Gegen Terroristen, Schmuggler und Zivilisten – wie Tunesien seine Grenzen aufrüstet“